Wenn an einem der unromantischsten Orte dieser Welt, in einem Sport-Schwimmbad – nichts als Blau und Kacheln –, zu meist bekannter, ausgelutschter Musik acht junge Frauen mit Gelatine im Haar und Klammer auf der Nase in glitzernden Badeanzügen zackigen Schrittes ganz Geste und Muskeln und Zähne an den Beckenrand treten, um dann im Wasser in umwerfender Einheit Arme und Beine in alle Richtungen zu strecken, sich aus dem Wasser in die Höhe zu werfen und nach einem Salto wieder einzutauchen, und wenn währenddessen ein*e Kommentator*in Sachen murmelt wie »Gute Synchronisation«, »Da war die Ausführung etwas unsauber«, dann kann man kopfschüttelnd wegschalten, oder man kann sich erst berieseln und dann auffressen lassen von einer kuriosen, anderen Welt, die auf den Grenzen unserer Vorstellungen von Sport, von Kunst, von Körpern herumtrabt wie ein Pony mit Schecken in Blumenform.
Körper, die im Sport sonst so, tja, körperlich sind, so sichtbar arbeiten, so präsent sind, werden zu glitzernd verpackten, langen Gliedern, die sich im Wasser zu etwas Staunenswertem formieren, dessen Sinnhaftigkeit zurücktritt hinter das zähe und anstrengende Streben nach Perfektion. Die jungen Frauen haben DAFÜR jahrelang bis zu zehn Stunden täglich trainierend im Wasser verbracht und wer bin ich zu fragen, warum eigentlich? Es ist mir egal. Ich schaue und staune. Das Kichern ist mir schon lange vergangen.
Die Leistung von Synchronschwimmerinnen wird nach mehr oder weniger eindeutigen Kriterien bewertet: »Synchronisation, Schwierigkeit, Choreografie und Interpretation der Musik sowie Art und Weise der Darstellung«1. Egal wie schwammig die Kategorie »Art und Weise der Darstellung« ist und wie wenig objektiv diese sich bewerten lässt, es gilt der Geschmack der Punkterichter*innen, sie sind sozusagen die Stoppuhr des Synchronschwimmens. Ihre Bewertung entscheidet, wer auf dem Treppchen steht und wer nicht, wer gute Synchronschwimmerinnen sind und wer nicht, und wem das nicht gefällt, dem kann man nur sagen: »Das hier ist Leistungssport!«
Diese Voraussetzung ist wichtig: Synchronschwimmen ist Sport und wird in diesem Kontext verhandelt. Diese Tatsache setzt Synchronschwimmen nämlich auch Grenzen, auf die ich später noch kommen werde.
Allerdings ist es ein Sport mit einem offensichtlichen Show-Aspekt, was viele Leute belustigt. Wenn es darum geht, alberne Sportarten aufzuzählen, ist Synchronschwimmen meist ganz vorne dabei. Dabei ist es wirklich höllisch anstrengend und erfordert Kondition, Konzentration und Körperbeherrschung auf einem schier übermenschlichen Level, was zugleich nicht zu sehen sein darf. Es muss anstrengungslos aussehen, leicht, fliegend, was auch zum angestrengten Lächeln führt, das vielen Zuschauern einen leichten Schauder über den untrainierten Rücken jagt.
Die Besten können bis zu 38 Sekunden unter Wasser bleiben – während sie Hochleistungssport treiben –, und mit der Fähigkeit, sich bis zu den Oberschenkeln aus dem Wasser zu drücken, ohne den Schwimmbeckenboden zu berühren, wird auch niemand geboren. Wer das nicht beeindruckend findet, möge mal versuchen, mit angehaltenem Atem drei Runden um den Block zu rennen. Aber daran scheint niemand zu denken, wenn er sich lustig macht über die Musik, die glitzernden Badeanzüge, das Make-Up, das angestrengte Lächeln, das »Gefuchtel« und die Punktevergabe, die nicht so leicht nachzuvollziehen ist wie zum Beispiel beim Hochsprung.
Zum Glück muss die Bewertung in den wirklich wichtigen Wettbewerben der letzten zwanzig Jahre ohnehin nicht diskutiert werden, weil die Russinnen mit so großem Abstand das beste Team sind, dass selbst Laien das erkennen. Die Russinnen haben alle Goldmedaillen gewonnen, die es in diesem Jahrtausend zu gewinnen gab, und zwar unangefochten. Ihre aggressive Perfektion, geboren aus einer Mischung aus Leistungsdruck und dem Wissen um das eigene, überragende Können, versetzt jeden Zuschauer drei Minuten lang in Schockstarre. Wer das nicht glaubt, schaue sich die freie Kür von Natalja Sergejewna Ischtschenko und Co bei den diesjährigen Olympischen Spielen an (vor allem ab Minute 1:26!).
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Es wird nicht mehr so oft gestritten über die Grenze zwischen Kunst und Unterhaltung, zwischen E und U, und auch wenn diese Diskussion wohl immer – irgendwie – ihre Berechtigung haben wird und an prominenten Grenzfällen aufflammt, glaube ich, dass es kaum jemanden gibt, der ihrer nicht müde ist. Mit sehr viel überschüssiger Energie könnte man in diesem Kontext auch über das Synchronschwimmen zanken, aber das muss nicht sein. Viel spannender ist etwas anderes.
Sport ist ein weiteres Reibungsfeld der Kunst, das metaphorische Sandpapier zahlloser Diskussionen ohne Abschluss. Ob etwas Sport ist oder Kunst, scheint bei näherer Betrachtung allein kontextbedingt zu sein. Schließlich ist alles, was innerhalb eines Theaters, auf einer Bühne passiert, immer auch Körperarbeit. Tänzer*innen, keuchende Schauspieler*innen oder durchgeschwitzte Fräcke im Orchestergraben sprechen eine eindeutige Sprache von der körperlichen Leistung der Akteur*innen. Die körperliche Arbeit ist in diesen Fällen Teil der künstlerischen Arbeit und spielt als solche eine untergeordnete Rolle. Im Sport ist es genau umgekehrt. Zuerst einmal gilt: Wer höher, weiter, schneller kommt, der liegt klar im Vorteil, die Sportarten, in denen sich durch die obskure »B-Note« noch etwas retten lässt, sind nicht besonders zahlreich, eigentlich fallen nur Eiskunstlauf, Synchronschwimmen und zum Teil auch Rhythmische Sportgymnastik darunter.
Doch wann und wie kam es überhaupt dazu, dass Synchronschwimmen zum Sport wurde? (Das Warum und Weshalb ist müßig zu beantworten, schließlich gibt es auch Schönheitswettbewerbe, Wettessen und Poetry Slams.) Angeblich gab es schon in der Antike Formen des Synchronschwimmens, im wassergefüllten Kolosseum, als Seeschlachten nachgestellt wurden. Aber dieses Wasserbecken wurde wohl auch anders genutzt. Martial dichtete 80 nach Christus:
»Lusit Nereidum docilis chorus aequore toto
et uario faciles ordine pinxit aquas.«
»Chöre geübter Nereiden bedecken die Wellen,
schildern ein mannigfach Bild in der geschmeidigen Flut.«2
Er preist die hohe Kunst dieser »Nereiden« und beschreibt diverse Figuren, die im Wasser dargestellt wurden. Historiker*innen gehen davon aus, dass diese »Nereiden« sehr wahrscheinlich Sklavinnen waren und die Darbietung im Kern dem heutigen Synchronschwimmen ähnelte.3 Und wenn dem auch nur annähernd so war, wer kann es ihm verdenken, dass er den Verdacht äußerte, die wunderschöne Nymphe Thetis selbst habe den Nereiden diese Kunst gelehrt.
Das sogenannte »Reigenschwimmen« entwickelte sich dann zunächst zu einem reinen Männersport, bis im England des 19. Jahrhunderts Darbietungen, die an jene der Antike erinnern, wieder in Mode kamen. In riesigen Wassertanks wurden Seeschlachten aufgeführt, und Kunstschwimmer zeigten ihr Können. Schwimmshows wurden immer populärer, und sehr bald zeigte sich, dass die Schwimmerinnen wesentlich beliebter waren als die Männer. Die Shows brachten Stars wie Annette Kellerman hervor, eine Australierin, die Stummfilme wie Queen of the sea und Art of diving drehte und später Vorträge über die gesundheitsfördernde Wirkung von Schwimmen und praktischer Kleidung hielt. 1907 wurde sie noch wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses am Strand verhaftet, da ihr Badeanzug für die damaligen Sitten als zu körperbetont galt. Schon immer war das Bestreben, Frauen Vorschriften zu machen, wie sie sich am Strand zu kleiden haben, weniger von Vernunft und Vorsicht geleitet als von dem Versuch, Frauenkörper und ihre Wahrnehmung in die Normen der Zeit zu pressen. Schließlich waren die damals üblichen, wallenden Badegewänder für so manchen Unfall im Wasser verantwortlich.
Ihr Leben wurde 1952 unter dem Titel Die goldene Nixe (The Million Dollar Mermaid) verfilmt, die Hauptrolle spielte Esther Williams, die viele als die Mutter des Synchronschwimmens ansehen.
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1984 wurde Synchronschwimmen olympisch (und exklusiv weiblich) – das magische Siegel, dass es sich um eine ernstzunehmende Sportart handelt. Dadurch war selbstredend der Drang geboren, jede Kür komplizierter, schneller und spektakulärer zu machen. Was blieb, war die Notwendigkeit, mit Hilfe von acht Frauenkörpern zu einem Thema und der passenden Musik eine Geschichte zu erzählen. Das Thema kann allgemein gehalten sein wie die »Engel« der Russinnen dieses Jahr bei den Olympischen Spielen, die ein Gebet darstellten, weil ihre Trainerin eine persönliche Krise durchlebte, Peter Pan, Tierwelten, Samba und einiges mehr. Es lassen sich allerdings auch konkrete Geschichten erzählen wie durch das chinesische Team mit Das Phantom der Oper.
Natürlich ist das Kitsch, natürlich ist das an sich keine »große Kunst«, es ist eine Show, die deshalb überrascht, weil sie im Rahmen von »Sport« auftritt. Ein Wasserbecken, Musik und acht exakt darauf getrimmte Körper, die sich durch das Wasser werfen und dabei eine tragische Liebesgeschichte erzählen, wofür sie am Ende Punkte bekommen. Das Erzählte selbst tritt in den Hintergrund hinter die Ausführung, das Wie ist entscheidender als das Was. Meistens. Sobald sich auch nur ein Hauch von Kontroverse in die Darstellung mischt, wird es schwieriger. Dass die Kanadierinnen 2012 zur einen Hälfte mit Federschmuck und braunbemalten Gesichtern, zur anderen Hälfte mit Cowboyhüten ans Becken traten und im Becken Cowboy und Indianer spielten, wurde vor allem in den Kommentaren unter dem YouTube-Video dieser Performance kritisiert.
Vor zwanzig Jahren allerdings sprengte das französische Team mit seiner geplanten Kür alle Grenzen. Das Thema der besagten Kür für die Olympischen Spiele sollte sein: der Holocaust. Das Team sollte in schwarzen Badeanzügen im Stechschritt an den Beckenrand treten, um dann »in der Gaskammer«, dem Schwimmbecken, zu verschwinden.4 Zur Musik von Schindlers Liste. Das wurde ihnen naturgemäß verboten, Presse, Sportminister und jüdische Verbände zeigten sich entsetzt über die »Geschmacklosigkeit«. Der für die Kür verantwortliche Trainer verteidigte sich damit, dass Synchronschwimmen »Kunst« sei, kein Thema tabu sein dürfe und sie mit ihrer Kür ein Statement gegen Rassismus setzen wollten.
Es steht Synchronschwimmern wohl genauso zu, zu versuchen, den Holocaust künstlerisch zu verarbeiten, wie das Schriftsteller*innen, Tänzer*innen und Regisseur*innen zugestanden wird, wäre da nicht der Aspekt des Sports, des Wettbewerbs, des Spektakels. Ohne Frage ist Sport ein gutes Podium, um Zeichen zu setzen, und viele Sportler*innen tun das im Kontext ihres Sportes: eine erhobene Faust auf dem Siegertreppchen kann politischer Sprengstoff sein. Ob das Nachspielen des Holocausts in einem Schwimmbecken mehr sein kann als geschmacklicher Sprengstoff, ist fraglich. Vielleicht wäre das Verstörungs- oder Aufstörungsmoment des Themas an so unerwartetem Ort tatsächlich gewinnbringend gewesen, wer weiß das schon? Trotzdem ist die erste Reaktion der Mehrheit ein klares »Nein!« dazu, den Holocaust in einer Reihe mit den Themen »Schmetterlinge«, »Zirkus« und »Seemonster« zu sehen. All die körperliche Perfektion, Schönheit, Verbissenheit, das Bizarre und Absurde des Synchronschwimmens scheint lächerlich und jämmerlich, wenn mit so einer Thematik konfrontiert. ALLES scheint lächerlich, wenn mit dieser Thematik konfrontiert.
Die wahre Geschichte sind ohnehin die Körper, das Wasser wird zum Papier, alles andere sind Randnotizen und als solche taugen bestimmte Themen nun mal nicht. Der Begriff »Kunst« reicht nicht um das gesamte Gebilde »Synchronschwimmen« herum, wo die körperlichen Grenzen weit überschritten scheinen, sind die inhaltlichen umso enger.
Synchronschwimmen ist Sport. Und wenn man sich das (sehr körnige, es war schließlich 1996) Video der dann tatsächlich aufgeführten Kür der Französinnen, deren »anstößige« Elemente entfernt wurden, deren Kernthematik aber immer noch mehr als erahnbar ist, anschaut, dem wird aus mehreren Gründen schaudern, zu konkret ist das Grauen, nachgespielt im Swimmingpool.
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Was Kunst und was Sport (also Unterhaltung) ist, wird sichtbar, wenn Sportler*innen sich Themen annehmen, die der Sport ganz offensichtlich nicht mehr tragen kann. Professioneller Sport ist eine gloriose Zelebration der eigenen Inhaltsleere, eine Feier der Fähigkeiten des Körpers, die im Sport perfekt geschult ins absolut Leere laufen. Oder eine Sandkiste. Was nicht heißen soll, dass es keine große Leistung ist, aber es ist ein fragiles, eigenes Gebiet, das man nicht mit den schweren Schuhen des Geistes betreten sollte, sonst geht man unter. Darum trage ich beim Synchronschwimmen am liebsten nur Socken an den Füßen. Die Nasenklammern sehe ich schon gar nicht mehr.
1http://www.dsv.de/fileadmin/dsv/documents/synchronschwimmen/WB_SYN_Stand_2013.11.23.pdf
2Marcus Valerius Martialis in einem Auszuge, Übersetzt von Carl Wilhlem Kamler, Wien 1783
3http://www.smithsonianmag.com/history/synchronized-swimming-has-history-dates-back-ancient-rome-180960108/?no-ist
4http://www.deseretnews.com/article/494041/HOLOCAUST-SWIM-ROUTINE-IS-OUT-FRENCH-SPORTS-MINISTER-SAYS.html?pg=all
Das Startbild beruht auf einem Foto von Pierre-Yves Beaudouin