Sommer in Neukölln ist, wenn das Sauerstoffboot fährt. Es heißt Rudolf Kloos, wurde 1995 gebaut, hat 1,7 Millionen Euro gekostet, und sein einziger Zweck ist es, Sauerstoff in den Landwehrkanal und den Neuköllner Schifffahrtskanal zu pumpen, 1600 Liter pro Nacht, damit die Fische darin nicht sterben. Es erstaunte mich zu lesen, dass Fische im Kanal leben, aber das tun wohl viele Fische. Aale, Barben, Barsche, Brachsen, Brassen, Bücklinge, Döbel, Giebel, Güster, Hechte, Karpfen, Kaulbarsche, Quappen, Rapfen, Rotaugen, Rotfedern, Schleien, Stichlinge, Ukeleis, Zander. Und Blaualgen. Zu viele Blaualgen. Klimaerwärmung, heiße Sommer. Sie treiben wolkig im Wasser und verbrauchen Sauerstoff. Zu viel, als dass genug für die Fische übrig wäre. Weil das Abwassersystem in Berlin so alt ist und in den Kanälen viel landet, was da nicht hinein sollte. Deswegen braucht es das Boot, inzwischen fährt es jeden Tag. Dass es das Boot gibt, ist ein Zeichen dafür, dass etwas nicht stimmt.
Das hindert mein Herz nicht daran, sich vor Freude zu weiten, wenn ich es sehe. Wahrscheinlich, weil es nachts fährt. Und beleuchtet ist. Majestätisch und fröhlich. Die Rudolf Kloos sieht riesig aus auf dem Schifffahrtskanal, sie ist rot und weiß und ähnelt einer Fähre. Sie ist das einzige Sauerstoffboot Deutschlands. Ganz korrekt heißt es Belüftungsschiff, beide Worte sind wunderschön. Sie ist das einzige Schiff, das nachts auf den Kanälen fahren darf. Die einsame Kriegerin des Fischbestands. Wenn ich sie sehe, laufe ich ein Stück neben ihr her, als gingen wir Gassi. Wer wen Gassi führt, ist dabei nicht geklärt. Sie zieht mich hinter sich her, das weiß sie nur nicht. Irgendwann fing ich an, auf sie zu warten. Gegen halb zehn ging ich zum Kanal hinunter und wartete, fast jeden Tag. Ich hörte ihre Motorengeräusche, und ich hörte die Musik, die die Besatzung hörte. Die Besatzung sah ich allerdings nie. Aber es gab sie, manchmal tutete das Schiffshorn, wenn das Schiff unter einer stark bevölkerten Brücke durch fuhr, und die Menschen auf der Brücke freuten sich. Ich lief neben der Rudolf Kloos her und sah sie an, bis ich müde wurde. Dann sah ich ihr nach, bis sie im Dunkeln verschwunden war, von Sauerstoff aufgeschäumtes Wasser hinter ihr.
Es ist kurz vor 22 Uhr, es ist viel zu warm, viele Menschen sind unterwegs, auf dem dunklen Wasser schaukeln erleuchtete Fenster und fast unsichtbar die Blaualgen. Ich sitze wieder auf einer Treppe am Kanal, und ich höre sie kommen. Laut und leise gleichzeitig. Gemächlich nähert sie sich überraschend schnell. Sie fährt sehr nahe an mir vorbei, viel näher am Ufer als nötig, und ich denke nicht nach, bevor ich den eigentlich zu großen Schritt mache und dann auf dem Heck stehe. Niemand scheint es bemerkt zu haben, zumindest kommt niemand, um mich zu schimpfen. Davor habe ich am meisten Angst. Aber es ist schön, hinten auf dem Schiff, auf dem Kanal. Ich hocke mich hin und mache mich so klein wie möglich. Wir fahren unter all den Brücken durch, über die ich schon so oft gegangen bin. Ich schaue hoch zu all den erleuchteten Fenstern, wir fahren über ihre Spiegelungen. Die Besatzung bewegt sich ab und zu, bedient die Maschinen, niemand spricht. Mücken umgeben plötzlich mein Gesicht, reflexartig versuche ich, sie fortzuwedeln. Sobald ich merke, dass ich wedele, ziehe ich erschrocken meine Hände zurück. Die plötzliche Bewegung ist ein Riss in der Stille, die das Schiff umgibt. Oder zu umgeben scheint. Ich falte meine Hände auf den Oberschenkeln, mache im Fahrtwind die Augen zu. Wieder scheint niemand mich gesehen zu haben, wieder kommt niemand, um mich zu schimpfen.
Als ich die Augen öffne, ist um das Boot herum alles dunkel. Ich weiß nicht, wo wir sind. Vorne sehe ich eine Zigarettenspitze rot glühen. Der Motor ist immer noch zu hören. Unter uns ist dunkles Wasser. Wir fahren. Aber wohin? Ich überlege, von Bord zu springen. Aber wo ist das Ufer? Der Wind streichelt mir über das Gesicht, und meine Knie werden weich. Ich beschließe, in Richtung der brennenden Zigarette zu gehen, zu fragen, wo wir sind, zu sagen, dass es mir leid tut, aber ich falle nach vorne, der Boden verliert den Halt unter mir. Mit dem Bug voran sinken wir und das schnell. Das Wasser steht mir bis zu den Knien. Bis zur Hüfte. Bis zu den Schultern. Ich will wegschwimmen, aber die Rudolf Kloos zieht mich mit sich. Ich falle ihr hinterher, das Wasser ist tief, viel tiefer, als es in Berlin sein kann. Es ist finster, die Bootslampen sind verlorene helle Punkte im Nichts. Mein Ärmel bleibt an etwas hängen, es ist ein rostiges Fahrrad, das im Wasser schwebt. Das kann eigentlich auch nicht sein, es müsste doch auf den Grund gesunken sein. Mein Ärmel löst sich von dem Fahrrad, ich falle weiter. Die Rudolf Kloos setzt jetzt auf dem Boden auf. Aber auf welchem denn eigentlich? Mein Brustkorb wird enger. Im knappen Schein der Lichter ist etwas zu sehen, aber nicht zu erkennen. Ein großes Tier. Ein sehr großes Tier. Mit langem Fell, seidig und glänzend. Es sieht aus wie ein übergroßer langhaariger Bär mit viel zu vielen Armen und Zähnen, Augen kann ich nicht erkennen. Die vielen Arme schleifen durch das Wasser, das lange Fell hinterher, als versuche es, hinterherzurennen, mitzuhalten, könne aber nicht. Wahllos haut das Tier seine riesigen Fäuste in das Metall, Beulen und Risse tauchen auf und verwandeln sich in Brüche. Dabei sind die Schläge viel langsamer, als sie über Wasser wären. Sie reichen, um die Rudolf Kloos in mehrere Stücke zu schlagen. Die mächtige, wunderschöne Rudolf Kloos wird vor meinen Augen zu Schrott und bleibt reglos auf dem Boden liegen. Die Besatzung treibt im Wasser, ebenfalls reglos, das Haar dünn und kümmerlich im Vergleich zum wogenden Fell. Ihre Kleidung treibt um sie herum, es zappelt gefangen um Arme, Beine, Bäuche. Drei Körper kann ich zählen. Sie driften in den Strömen, die das Tier beim Zerschlagen der Rudolf Kloos verursacht. Runde Bäuche, schlaffe Muskeln, die perfekte Entspannung in aufgewühltem Wasser. Bis auch sie in mehrere Stücke geschlagen werden. Gerissen. Kleine rote Wolken umgeben sie, die immer größer werden und immer dunkler. Das Tier ist vornübergebeugt, sein Körper verdeckt mir die Sicht auf das, was es in den Armen hält. Es macht Bewegungen, als würde es energisch eine Tasche ausleeren. Jedes Mal steigt eine weitere rote Wolke auf. Im Durchschnitt enthält ein erwachsener Mensch fünf bis sieben Liter Blut, etwa 8 Prozent des Körpergewichts. Rote Blutkörperchen, weiße Blutkörperchen, Blutplättchen und Plasma. Das gemeingermanische Wort „Blut“ gehört wahrscheinlich im Sinne von „Fließendes“ zu indogermanisch bhlê– „quellen“, und bhel– „schwellen, knospen, blühen“. Durch die Wolken kann ich nur erahnen, wie aus den schlaffen Körpern Einzelteile werden, Gedärme Schleifen tanzen, Gesichter alles verlieren, was sie zu Gesichtern macht, und Rippenbögen einbrechen wie Brücken bei Erdbeben. Ein menschlicher Arm treibt in meine Richtung, er winkt nicht, weder grüßend noch verzweifelt, es ist nur noch ein toter Arm. Ich möchte nichts mehr sehen, ich versuche, den Kopf abzuwenden, aber das Wasser dreht mich im Kreis. Das Herz der Rudolf Kloos, der Sauerstofftank, zerbricht, eine riesige Blasenwolke steigt auf und verdrängt die roten Wolken, ich kann nichts mehr sehen, nur noch Blasen, überall sind Blasen, alles ist Sauerstoff, der schnell nach oben steigt, aber es kommt immer mehr hinterher. Durch die Blasen kommt eine Pranke auf mich zu, die langen Krallen reißen etwas an meinem