Wie erzählt man das Unglaubliche?
Nicht dass das, was mir zustieß, wirklich unglaublich gewesen wäre, aber es war ein Zusammenspiel der Mächte des Universums von so präzisem Timing, dass es hart an der Rinde des Unglaubwürdigen kratzt. Dieses Erlebnis ist für mich auch eigentlich vollkommen unbedeutend, da alles noch gerade so eben gut ausging.
Ein Erlebnis allerdings, das, weil es so komplett absurd und irrelevant, aber auch so verdammt unwahrscheinlich ist, das Bedürfnis, es glaubhaft und möglichst lebensnah nachzuerzählen, sehr dringlich werden lässt. Wie findet man eigentlich Worte für das Unwahrscheinliche?
Wenn einem etwas Unerhörtes passiert, weckt dieses mit aller Kraft das Bedürfnis, es möglichst so zu erzählen, dass die daraus resultierende Geschichte zum einen glaubhaft klingt, denn man hat es ja erlebt – wirklich! –, aber zum anderen auch so, dass der volle Irrsinn erzählerisch hervortritt und unterstreicht, welch ein erschütterndes Erlebnis das für einen war.
(Das ist in etwa so kompliziert, wie Leuten das Ausmaß des eigenen körperlichen Schmerzes nahebringen zu wollen. Körperlicher Schmerz gehört immer nur einem selbst, seine Verlautbarung scheitert immer, und Empathie ist in solchen Fällen immer nur für eine Person, die leidet und nicht die Person, die DIESEN Schmerz erleidet. Ähnlich ist es bei Schockmomenten, die sich auch nur durch Horrorfilm-Taschenspielertricks halbherzig rekreieren lassen.)
Das Erzählen des Alltags oder von Momenten links und rechts davon erfordert ja ebenso wie die Literatur eine Dramaturgie – wenn auch eher auf Mikro-Ebene – und einen Stil, um mit Schwung und Verve diese Prosaminiatur oral abzuliefern. Von diesen gibt es ja einige Genres: das des Telekom-Techniker-Besuchs, der furchtbaren Bahnfahrt mit vielen Verspätungen oder das der WG-Geschichten. Dazu gibt es ein bekanntes Vokabular, die Kunst liegt darin, seinen eigenen Ansatzpunkt zu finden. Bei Dingen außerhalb des sattsam Bekannten liegt die Kunst darin, das Vokabular neu zu erfinden.
Das sind jetzt große Worte als Einleitung für ein banales Erlebnis, das mich aber über genau diese Dinge sehr intensiv nachdenken ließ.
Was war passiert?
Es war der erste warme Tag des Jahres, ein Frühlingssonntag wie aus einem Werbespot für alkoholfreies Bier, und ich lief allein durch die Straßen Neuköllns, in Gedanken ganz woanders, denn wer will schon in Gedanken in Neukölln sein, wenn sie schon physisch dort sein muss?
Ich bog um eine Ecke, und noch bevor ich realisiert hatte, dass gerade etwas passiert war, sah ich einen sehr jungen Mann vor meinen Fußspitzen auf dem Bürgersteig liegen. Nachträglich hörte ich das dumpfe Krachen seines Körpers auf dem unebenen Pflaster, er musste irgendwo von oben heruntergefallen sein. Bevor ich in Panik verfallen konnte, stand er verwirrt ächzend wieder auf, auf mein entgeistertes »Ist alles in Ordnung?« antwortete er mit abwesendem Nicken, klopfte sich die Hosen ab und schlenderte davon.
Soweit der unerhörte Teil der Geschichte. Aus dem Nichts fällt ein junger Mann aus dem sprichwörtlichen Himmel und übersteht es anscheinend ohne Kratzer.
Nachdem ich ihm sorgenvoll eine Weile hinterhergeschaut hatte, er aber kein Anzeichen eines körperlichen Schadens zeigte, betrachtete ich die Situation eingehender. Hinter mir stand eine Klappleiter vor einem Balkon auf ca. 3 Metern Höhe. Aus logistischen und physikalischen Gründen konnte er nicht von dieser Leiter gefallen oder gesprungen sein.
Es kann eigentlich nur der Balkon gewesen sein.
Dann kam ein älterer Herr suchenden Blickes um die Straßenecke, sah den Jungen, fing an zu rennen, der Junge drehte sich um und begann seinerseits zu rennen. Die Verfolgungsjagd währte nur ein paar Sekunden, dann gab der Ältere auf. Der Jüngere begegnete mir kurz darauf erneut, als er sich in Richtung dieses Ortes zurückbewegte, auffällig unauffällig.
Das war auch schon alles.
In der mündlichen Wiedergabe dieser Vorkommnisse tun sich einige Schwierigkeiten auf: Man kann gar nicht s-RUMMS!!!-o schnell sagen wie erforderlich. Abgesehen davon, dass »RUMMS!« es nicht so wirklich trifft, das Geräusch des Aufeinandertreffens von menschlichem Körper und Kopfsteinpflaster ist ein vielschichtiges, verstörendes und subtiles. Es ist auch nicht sonderlich laut, es wird nur so viel lauter, wenn man noch das Sausen des Luftstromes, das den fallenden Körper begleitet, vor dem inneren Ohr hat. Frau Dr. Erika Fuchs, die geniale Übersetzerin der Donald-Duck-Comics von Carl Barks, hätte wohl das richtige Wort dafür gefunden. »Baplompsch!« oder so ähnlich. Da ich aber weder so genial bin, noch von Physik Ahnung habe, fehlte mir das Vokabular, um das Geräusch treffend wiederzugeben und den wahrscheinlichen Flug- oder Fallbogen zu errechnen. »Die Leiter stand zwei Meter hinter mir, wie soll das gehen?«, klingt nicht ganz so letztgültig wie das, was eine studierte Physikerin dazu vielleicht zu sagen hätte.
Es ist auch verschmerzbar, dass ich keine Physikerin bin, es gäbe viele Sprachen, um über das Erlebte zu sprechen. Was mich schmerzt ist, dass ich offenbar keine davon gut genug beherrsche, um das Erlebte auch nur zufriedenstellend wiederzugeben. Aber auch okay, bin ich ja keine Schriftstellerin.
Ich sehe mich durchaus in der Lage, meinen Alltag angemessen nachzuerzählen (das ist aber langweilig), nur beim Außerordentlichen hapert es (und das will man ja meistens berichten).
Im Dunstkreis dieses Themas blieb ich neulich an einer (rhetorischen?) Frage von Daniela Strigl hängen. In einer Rezension des neuen Buches von Wilhelm Genazino in der FAZ vom 13.4.2018 schrieb sie den Satz, der mich seitdem grübeln lässt:
»Denn wie kann man einem Autor vorwerfen, dass die Grenzen seiner Welt auch die Grenzen seiner literarischen Sprache sind?«
Wie, ja wie? Sehr einfach, war meine erste Reaktion, sind nicht die Einbildungskraft, die Phantasie, die Luftschlosserei allererste Begabungspflicht der schreibenden Zunft? Natürlich nicht, bei weiterem Nachdenken, eine präzise und sprachlich kreative Beschreibung der Wirklichkeit ist in nichts unliterarischer als die Geschichte von der Katze aus Nebel hinter den Zuckerwattebergen, die jeden Abend ihre kühlen Pfoten auf die Erde legt und den Weltgeist schlürft wie saure Sahne. Oder so ähnlich. Wenn ich also als »Autorin« die Geschichte des vom Himmel fallenden Mannes wiedergebe, ist mir dann vorzuwerfen, dass ich es nicht ausreichend kann, weil die Geschichte schon außerhalb meiner bekannten Welt liegt? Das war schließlich der erste Mensch, der vor mir aus dem Himmel fiel. Anderes verfehlte mich bereits haarscharf, ein Sessel aus Hartplastik beispielsweise, der wohl gut 10 Kilogramm wog. Der hätte mir genauso gut das Genick brechen können wie der Junge. Aber der hätte sich noch dazu selbst das Genick brechen können. Liegt diese Erfahrung also innerhalb der Grenzen meiner Welt? Offensichtlich, ich stand ja da an dieser Straßenecke und malte mir aus, was passiert wäre, wäre ich eine Viertelsekunde früher dran gewesen. Die Grenzen der eigenen Welt und die Grenzen der literarischen Sprache sind ohnehin eher Grauzonen als scharfe Linien und docken irgendwo an die Frage nach der cultural appropriation, nach der Berechtigung, eine Geschichte zu erzählen, an. Aber das müssen klügere Leute als ich diskutieren.
Aus ganz anderen Gründen führte das Nachdenken über dieses Ereignis mir auch die Grenzen meines eigenen Denkens und meinen Mangel an Phantasie vor. Denn beim Versuch, dem Erlebten Logik zu verleihen und über seine Vorgeschichte zu spekulieren, kam bei mir Folgendes heraus: Der junge Mann war über die Leiter in die Wohnung hinter dem Balkon eingestiegen, war erwischt worden und floh aus Zeitnot über den Balkon. Der ältere Herr war der Besitzer der Wohnung, der ihn überrascht hatte. Klingt logisch? Klingt logisch. Bis ich die Geschichte einer Freundin erzählte, die im Brustton der Überzeugung widersprach. »Unsinn! Das war der Lover der Frau des älteren Herrn!« Oh. Na gut. So hatte ich es noch gar nicht gesehen. Je mehr Leuten ich davon erzählte, desto mehr Optionen häuften sich an. Der hausarrestierte Sohn war ausgebüchst, Undercover-Drogenfahnder auf Mission, Familienstreit, der Junge als Lover des älteren Herrn und so weiter und so fort.
Es ließen sich sehr viele Stories daraus spinnen und wahrscheinlich ein ganzer Erzählband mit Spekulationen über die Ursachen des Bezeugten füllen. Alles darin wäre legitim, wäre richtig, eine Spekulation kann schließlich nicht falsch sein, alle hätten einen eigenen Ton, nichts davon wäre wirklichkeitsferner als das andere, es wären lauter eigene Geschichten über eine Begebenheit, die mir zugestoßen ist. Was meine Erzählung aber nicht wirklicher macht. Vielleicht, weil mir das Handwerk fehlt, vielleicht auch nur die Leiter.
Die Wirklichkeit war in dem Moment vorbei, als ich mich an diesem Sommertag wieder in Bewegung setzte. Danach setzte mit meiner Erzählung die erste andere Wirklichkeit ein, der zarteste Kontakt mit der Fiktion. Und da hatte sie schon mehr blaue Flecken abbekommen als der junge Mann beim Kontakt mit dem Bürgersteig.
PS: All das habe ich selbstredend nur drumherum gestrickt, um eine Ausrede dafür zu haben, möglichst vielen Leuten die irre Story meines ersten Frühlingstages zu erzählen.