Im vergangenen Sommer, als der Krieg in Israel und Gaza tobte, reiste ich ohne meine Tochter nach Tel Aviv, denn ich wollte der Kleinen die Sirenen und das Rennen in die Schutzräume ersparen. Ich traf meinen Cousin Yoram. Wir verabredeten uns in einer Konditorei. Yoram, der einstige Fallschirmspringer in der israelischen Armee, hat eine Schwäche für Mehlspeisen, obgleich sein Metier wenig mit Genuss zu tun hat. Yoram wurde früher nicht nur an der Front eingesetzt. Er kämpfte auch im feindlichen Gebiet. »Uns wurde gesagt, der ist die Nummer eins. Das ist der Schlimmste. Den gilt es auszuschalten. Kaum hatten wir das erledigt, wurde die ehemalige Nummer zwei zur neuen Nummer eins, die noch viel schlimmer war, worauf wir wieder gerufen wurden. So ging es, und so geht es weiter. Ohne Ende.«
Längst ist Yoram, bald sechzig Jahre alt, kein Soldat mehr. Er ist nun Sicherheitsexperte. Als ich ihn fragte, was er zum Krieg mit der Hamas sage, wurde er sehr laut und schimpfte auf die Regierung, auf den Premier, auf die nationalreligiösen Siedler. Wir saßen in dem kleinen Lokal, und noch war kein Waffenstillstand ausgehandelt. Die Leute blickten herüber, und knapp neben uns stand ein Mann mit Kippah, der unentwegt auf Yorams Apfelstrudel starrte.
Ob er die Verantwortung für das Scheitern der Friedensversuche denn nur auf einer Seite sehe, fragte ich ihn leise. Yoram erklärte, es sei notwendig, zu verhandeln. Mit wem denn, wenn nicht mit den Feinden? Etwa mit den Schweden, mit den Schweizern oder den Kanadiern? Das wäre ja sicher nett. Wer jedoch Frieden wolle, müsse mit den Feinden sprechen!
Ja, sagte Yoram, er kenne die Gegner in diesem Krieg besser, als ihm und mir lieb sei. Niemand müsse ihm von deren Erbarmungslosigkeit erzählen. Er sagte: »Schau doch, was geschieht, wenn du den Zeigefinger auf einen anderen richtest. Sieh her. Drei Finger zeigen auf dich zurück, doch der Daumen weist hinauf zum Himmel. Verstehst du? Dreifach frage dich, was ist dein Anteil? Wo liegt deine Schuld? Was kannst du tun, um das Problem zu lösen?«
Zuweilen wundere ich mich, mit welcher Leidenschaft im deutschen Sprachraum über Israel und Palästina diskutiert wird. Nicht wenige, die weitab vom Schuss leben, streiten hier miteinander, als wären sie Beteiligte. Als stünden sie mitten in der Schlacht. Die Auseinandersetzung im Nahen Osten ist für sie der paradigmatische Konflikt. Ressentiments prägen die Debatte. Es wird so getan, als ginge es nicht um eine vielschichtige Konfrontation, sondern um eine Schlacht zwischen dem Guten und dem Bösen schlechthin.
Vielleicht wäre es gut, sich auch in Europa ein Beispiel an meinem Cousin zu nehmen, an diesem Kämpfer wider Willen, der den Frieden herbeisehnt. Das bedeutet nicht, angesichts von Menschenrechtsverletzungen und Terrorismus zu schweigen. Wichtiger wäre es jedoch, nicht der Logik des Krieges zu verfallen, sondern das Verständnis für beide Seiten zu schärfen: Statt Urteile zu fällen und Verurteilungen auszusprechen, muss es um die Frage gehen, was eigentlich der eigene Anteil an dem Problem ist.