Mit dem WM-Extrablatt begleiten wir die Fußball-Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien vom 12. Juni – 13. Juli 2014. Unser Team: Imran Ayata, Friedrich von Borries, Paul Brodowsky, Petra Hardt, Heinz Helle, Verena Güntner, Thomas Klupp, Katja Kullmann, Matthias Nawrat, Christoph Nußbaumeder, Albert Ostermaier, Thomas Pletzinger, Doron Rabinovici, Lutz Seiler, Stephan Thome, Stefanie de Velasco.
Ich war ja nie so sehr für Fußball, doch wenn schon, dann für den Fußball in Brasilien. Mutter war hingegen entschieden dagegen und forderte einen totalen Boykott jeder Übertragung. Sie geriet damit ins Abseits: Mein Vater, mein Bruder und meine Neffen sitzen seit jeher vor dem Bildschirm, knacken Nüsse, stoßen Schreie aus und springen in entscheidenden Momenten auf, um den Stars beim Kicken zu helfen.
Mich packt diese Leidenschaft nur schrittweise im Laufe einer Weltmeisterschaft, doch immerzu beim Anblick des brasilianischen Teams. Ich muss noch in der Volksschule gewesen sein, als mir das Buch Ich bin Pelé geschenkt wurde. Für mich, dem Kind der frühen Sechziger, wurde er zum Sinnbild einer neuen Zeit. Er war der Fußballer aus der Dritten Welt. Ich hielt im anti-imperialistischen Reflex zu ihm, und als ich dann noch den Rhythmus und die Harmonie seines Spiels sah, war ich dahin.
Hinzu kam die frühe Begeisterung für das Land. Ich war zehn Jahre alt und zu Besuch in Tel-Aviv, als mir Schimeck, ein Freund meiner Eltern, eine deutschsprachige, zweibändige Ausgabe eines Romans gab: Katakomben der Freiheit von Jorge Amado. Ich habe das Buch, das Buch hat mich verschlungen. Kaum hatte ich die ersten Kapitel gelesen, fuhr ich mit meinem Zeigefinger die Landkarte Brasiliens entlang und beschloss, eines Tages im Dschungel des Amazonas ein Guerillakämpfer zu werden. Guerillakämpfer wurde ich nicht, doch die Sehnsucht nach Brasilien verließ mich nie, ob ich für Orfeu Negro schwärmte, Samba tanzen lernte oder von Lula las, als er noch lange nicht Präsident war, sondern als Streikführer verhaftet wurde.
Inzwischen ist die Diktatur überwunden und die Wirtschaft erstarkt. Brasilien erlebt einen Aufbruch und soziale Reformen. Aber der Aufschwung der letzten Jahre ist dahin. Die Krise hat das Land erreicht. Protestbewegungen rufen zum Streik auf, und die Leute gehen auf die Straße – mit Recht. Sie nützen die internationale Aufmerksamkeit, um die Ungleichheit anzuprangern. Es ist paradox: Eben weil die unteren Schichten nicht mehr ohnmächtig sind, können sie mehr fordern und sich – anders als etwa während der Spiele in China oder in Russland – Gehör verschaffen.
Die Demonstrationen in Rio sind verständlich, doch in den Boykottaufrufen aus Frankfurt, London oder Kopenhagen schwingt ein unangenehmer Misston mit. Etwa die hämischen Prophezeiungen noch vor einigen Tagen, Brasilien werde an der Weltmeisterschaft scheitern. Dann Berichte über die Korruption innerhalb der FIFA, in denen so getan wurde, als wären die Schiebungen rund um den Schweizer Sepp Blatter eine rein südamerikanische Erscheinung.
Sollen Weltmeisterschaften etwa nur noch in autoritären Staaten stattfinden, weil da niemand aufbegehren kann? Oder bloß noch in Europa, wo alles so fein und längst kein Widerstand gegen die FIFA mehr zu erwarten ist?
Nein, da ziehe ich Brasilien vor, das Land, in dem Fußballclubs auch zum Fokus eines kritischen Engagements werden, und ich erinnere mich an die konkrete Poesie aus São Paulo, an die Dichter Augusto und Haroldo de Campos, die mich wiederum an den österreichischen Lyriker Ernst Jandl denken lassen und an sein Gedicht calypso:
ich was not yet
in brasilien
nach brasilien
wulld ich laik du go
…