Im Dezember 2014 fuhr ich zur Gedenkstätte des einstigen Vernichtungslagers. Was ich aufsuchte, kannte ich seit Jahren aus Büchern, aus Dokumentationen, von Fotos und aus Filmen, und zugleich kannte ich nichts, erkannte nichts wieder, und alles, was ich sah, trat mir unwirklich und wirklich zugleich entgegen, schien mir zu klein und zu groß im selben Moment. Ich schritt durchs Tor, auf unzähligen Bildern wiedergegeben, ging die Lagerstraße entlang. Der Stacheldraht. Der Todesstreifen. Der Haufen Zyklon-B-Dosen. Die Beinprothesen. Der Raum voller Schuhe. Die Kindersachen. Dann das Lager Birkenau. Viel weitläufiger, als ich es je verstanden hatte. Die Baracken. Die Latrinen. Die Schienen. Die Rampe. Die Reste der Gaskammern und der Krematorien.
Nirgends war, was den Opfern widerfuhr, für mich so unvorstellbar wie an diesem Ort. Hier konnte ich anfassen, was unbegreiflich blieb.
Die Gedenkstätte zu besuchen, heißt eben nicht, in Auschwitz gewesen zu sein. Doch viele meiner Texte schrieb ich wohl immer auch nach Auschwitz – im doppelten Sinn der Bedeutung. Nach Auschwitz bin ich, der Sohn von Schoschana Rabinovici, die mit ihrer Mutter das Ghetto, die Lager und den Todesmarsch überlebte, auf die Welt gekommen.
Als ich im Stammlager den Raum betrat, in dem das Gepäck der Ermordeten präsentiert wird, ging ich schnurstracks auf einen Koffer zu, noch benommen von den Eindrücken, denen ich soeben ausgesetzt gewesen war, den Haufen von Brillen, den Bergen aus Haaren, und ich blickte auf den Koffer, las den Namen und die Adresse, weiß aufgemalt auf dem Leder – und da stand: Tausik Raphaela Sara – II. Blumauergasse 10/9.
Das ist die Straße, in der ich wohne. Schräg gegenüber von Haus Nummer 10. Im zweiten Wiener Gemeindebezirk. In der Leopoldstadt, in der einstigen Mazzesinsel, wie diese Gegend damals genannt wurde, weil hier die meisten der etwa 180.000 Wiener Juden lebten. In diesem Viertel liegt auch die Herminengasse, in der Raphaela Tausik – oder auch Taussik, wie ihr Name auf der Deportationsliste geschrieben ist – vor 1938 lebte. Sie wurde am 14. Juni 1884 geboren. Im August 1942 wurde sie aus der Blumauergasse, wo sie zusammen mit Siegmund Taussik einquartiert worden war, abgeholt, um gemeinsam mit ihm am 13. August 1942 von Wien nach Theresienstadt zwangsverschleppt zu werden. Der Transport IV/7, c. 718 erreichte das Lager tags darauf, am 14. August. Am 18. Dezember des nächsten Jahres wurden beide von Theresienstadt nach Auschwitz deportiert. Sie überlebten nicht.
Im Dezember 2014 stand ich in der Gedenkstätte vor dem Koffer von Raphaela Taussik. Ich kehrte noch am selben Tag in die Blumauergasse heim, und als ich das Straßenschild sah, wusste ich, die Erinnerung ist kein ferner Ort in Polen. Sie liegt vor unseren Augen. Sie spiegelt sich teils in manchem Unrecht wider, das auch heute noch geschieht. Viele leben an ihr vorbei. Nicht wenige leben mit ihr. Sie prägt unseren Blick. Nach Auschwitz.