Manche Menschen kenne ich von später. Ich beschreibe sie, bis sie vor mir stehen. Ich schreibe sie mir vor. Das hat nichts mit Esoterik zu tun. Es ist nicht Schicksal. Es ist auch nicht Zufall, sondern, wie schon Max Frisch wusste, »das Fällige, was uns zufällt«.
Vor längerer Zeit saß ich mit meinen Eltern und meiner Tochter in einer Pizzeria in Wien. Vater rief die Kellnerin. Eine schlanke Frau mit schwarzem Zopf. Er, der gebürtige Rumäne, redete sogleich in seinem Italienisch auf sie ein. Er bestellte das Essen, witzelte dabei ein wenig mit ihr, fragte dann, aus welchem Teil Italiens sie stamme.
Sie komme aus dem Kosovo. Sie spreche Albanisch, Serbisch, Italienisch, Französisch, Englisch, Deutsch … So sei das bei den Kosovaren.
Vater nickte: »Sie sind wohl kosmopolitisch!«
»Das gerade nicht«, lächelte sie, aber der Kosovo sei ein herrlich schöner Landstrich und wenn er wolle, könne er mit uns, seiner Familie, in ihrem Elternhaus Urlaub machen. Er sei ihr sympathisch und das Haus stehe leer.
Vater streckte ihr die Hand entgegen und sagte: »David.«
»Flora«, schlug sie ein.
»Flora?« Ich mischte mich ein. »Merkwürdig. In einem meiner Bücher kommt auch eine Flora aus dem Kosovo vor.«
»Flora gibt es viele. Ich heiße Flora Dema.«
»Flora Dema? Genau so heißt die weibliche Figur in meinem Roman Ohnehin. Ein Flüchtling aus dem Kosovo in Wien.«
Ich müsse, sagte sie, ihren Namen in der Zeitung gelesen haben. Über sie sei viel berichtet worden. Sie sei die einzige Überlebende. Die Mörder seien Bestien gewesen. Die Frauen seien vergewaltigt worden. Die allermeisten jedoch ermordet.
Sie schaute auf meine Tochter: »Das ist nichts für dich, meine Kleine«, sagte sie, die zu jener Zeit selbst noch minderjährig gewesen sein musste, und Mutter, die als Kind ins Ghetto gepfercht worden war, nickte und fragte, wieso sie denn nicht getötet worden sei.
Sie habe sich, erklärte Flora, unter einem Tisch versteckt. Sie habe alles gesehen. Sie sei heute zu keiner Bindung mehr fähig. Sie könne kein Vertrauen mehr fassen. Es gehe ihr jedoch endlich ein wenig besser, seit sie bei der österreichischen Institution Hemayat, die unentgeltlich Opfer von Folter, Massenmord und Krieg betreut, eine Psychotherapeutin gefunden habe, die ihr half.
Ich suchte Flora einige Tage später wieder auf, um ihr meinen Roman zu schenken. Auf die erste Seite schrieb ich: »Für Flora Dema, ohne die dieses Buch nie hätte geschrieben werden können.«
Vielleicht war es diese Widmung, weshalb Flora zunächst nicht verstand, einen Roman bekommen zu haben, sondern meinte, eher eine Dokumentation zu lesen, denn als wir – meine Eltern, meine Tochter und ich – einige Wochen später wieder in der Pizzeria saßen, fragte ich sie, ob sie das Buch bereits gelesen habe. »Ja«, sagte sie, »aber das bin ich nicht. Das muss eine andere Flora Dema sein.«