Ein Sommer reichte, um mit einigen Mythen, mit denen ich aufgewachsen war, aufzuräumen. Ich rede von manchen Glaubenssätzen, die seit Jahrzehnten den Blick auf den Nahen Osten bestimmten. Bruno Kreisky, von 1970 bis 1983 österreichischer Bundeskanzler, hatte in den siebziger Jahren erklärt, dass die ganze Region ein Pulverfass, die brennende Lunte jedoch der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern sei. Wenn dieses Problem nicht gelöst werde, so sein Credo, könne mehr als bloß der Nahe Osten in Flammen aufgehen. Ja, Kreisky warnte, diese Gegend sei nun für die ganze Welt, was der Balkan einst für das alte Europa war. Wer könnte dem heute widersprechen?
Aber ist es allein der Kampf um Palästina, der das Gefüge der Staaten im Nahen Osten bedroht? Um nicht missverstanden zu werden: Die Besatzung zerstört jeden Ausblick auf einen Ausweg. Die Siedlungspolitik unterhöhlt die Möglichkeit zum Kompromiss und zur Aufteilung des Landes in zwei Staaten. Der Krieg ruiniert die Menschen und die Gesellschaft in beiden Völkern. Die Scharfmacher gewinnen in Israel an Kraft. Die Rechte unterminiert die Demokratie.
Aber der Gedanke, mit der Lösung dieses Problems kehre Ruhe in die Staaten des Nahen Ostens ein, ist widerlegt. Das eigentliche Problem liegt tiefer. Es mag von vielen Faktoren bedingt sein und von westlichen Begehrlichkeiten angeheizt werden, doch es ist nicht mehr möglich, die totalitäre Barbarei des Dschihadismus zu übersehen. Gäbe es Israel nicht, die bestimmenden Kräfte in den umliegenden Ländern würden nicht sanftmütiger werden. Gäbe es Israel nicht, jene Regime und deren Feinde müssten es erfinden. Die Politik dort ist von Diktaturen geprägt und vom Islamismus durchzogen. Wer – ob etwa in Saudi Arabien, in Syrien oder auch im Iran – von Verfolgung redet, wird durch Folter oder Hinrichtung zum Schweigen gebracht. Heldenhaft jene, die es dennoch wagen, für Demokratie ihre Stimme zu erheben. Es sind gar nicht einmal so wenige, wie im Arabischen Frühling zu sehen war, doch sie konnten sich nicht durchsetzen.
Der Orient – einst berühmt für sein vielfältiges Nebeneinander – wurde vielerorts zu einer gefährlichen Region für Minderheiten. Die Jesiden unterdrücken keine Palästinenser. Sie werden dennoch immer wieder umgebracht. Die Kurden bauen keine Siedlungen in Hebron. Sie werden dessen ungeachtet verfolgt. Lebten heute noch Juden in Bagdhad oder in Damaskus, würden diese Jahrtausende alten Gemeinden noch existieren, so müssten sie nun um ihr bloßes Dasein fürchten. Wären in Alexandria oder in Tunis noch Juden daheim, kämen sie spätestens jetzt in Bedrängnis. In diesem Teil der Welt droht vielerorts Genozid.
Nochmals: Es geht nicht darum, vom Leid in Palästina abzulenken. Aber zu verschweigen, welch mörderische Zustände in vielen Ländern des Nahen Ostens herrschen, nicht von der Barbarei islamistischer Vormacht zu reden, hieße die vielen Muslime, Christen und Juden, ja alle Menschen in der Region, die nicht mehr und nicht weniger als ein Leben in Würde und Freiheit leben möchten, im Stich zu lassen.