Mitten in der Gedenkstätte Auschwitz stieß ich auf die Wiener Blumauergasse, in der ich zuhause bin. In jenem einstigen Häftlingsblock, wo Koffer der Ermordeten ausgestellt sind, fiel mein Blick zuallererst auf ein Gepäckstück, auf dem mit weißer Schrift vermerkt ist: Tausik Raphaela Sara – II. Blumauergasse 10/9. Im August 1942 waren Raphaela und Siegmund Taussik nach Theresienstadt deportiert worden und im Dezember des nächsten Jahres nach Auschwitz. Sie überlebten nicht.
Das Viertel, in dem die Blumauergasse liegt, hieß einst die Mazzesinsel. Hier war das Zentrum der 180.000 Juden Wiens. Vertrieben oder ermordet wurden die Juden der Donaumetropole bereits im Jahre 1420. Seit 1620 durften sie nur in einem Ghetto außerhalb der Stadtmauern leben, auf eben jenem Schwemmland zwischen Donau und Donaukanal, das später Mazzesinsel genannt wurde. Aber schon 1670 verbannte Leopold I. wiederum alle Juden aus der Stadt. Der Kaiser ließ anstelle der Synagoge, die vom Wiener Mob niedergebrannt worden war, eine Kirche errichten. Ihre Glocken kann ich heute noch hören, und der 2. Bezirk, in dem ich wohne, heißt nach dem damaligen Herrscher Leopoldstadt.
Allen Verfolgungen zum Trotz fanden Juden immer wieder in diese Gegend. Kaum waren sie vertrieben, holten die Feudalherren sie zurück, um die Außenseiter mit heiklen Geldangelegenheiten zu betrauen. Noch im achtzehnten Jahrhundert zwang sie Karl VI., mittelalterliche Kennzeichen zu tragen. Unter Maria Theresia rangierten sie im Zolltarif hinter dem Vieh. Im Österreich des frühen zwanzigsten Jahrhunderts war der politische Antisemitismus ein Erfolgsrezept, und es war kein Zufall, dass die Nazis hier ihre Judenpolitik radikalisieren konnten.
Wenn ich durch die Gassen und Straßen meines Grätzels flaniere, stoße ich auf Spuren einstigen jüdischen Lebens und seiner Auslöschung. Die Mazzesinsel ist eine Totenstadt. Aber in den letzten Jahren blüht hier wieder jüdisches Leben auf. Wie merkwürdig: Es gedeiht ebendort, wo einst schon Juden wohnten.
Angesichts des neuen Antisemitismus und seiner mörderischen Attentate forderte Benjamin Netanjahu, die Juden mögen Europa verlassen. Er sprach damit jene Gefahren an, die viele jüdische Gemeinden beunruhigen, doch zweifellos schürte er damit auch jene Stimmung, die seine Politik der Angstmache und seine rechtsrechte Koalition in Jerusalem trägt.
Die jüdischen Gemeinden der Diaspora sind indes selbstbewusst. Sie leben im Europa der Gegenwart integrierter denn je. Sie fühlen sich dem Judenstaat verbunden, bestehen jedoch darauf, Teil der Union zu sein. Sie setzen, eingedenk der Vergangenheit, auf eine jüdische Zukunft inmitten eines Festlands der Vielfalt, und just dort, von wo einst Raphaela Taussik deportiert wurde, im Haus Blumauergasse Nummer 10, befindet sich heute eine Synagoge bucharischer Juden. An manchem freitäglichen Sommerabend, bei offenem Fenster, lausche ich ihren Gesängen, und dann freue ich mich, wie kraftvoll sie zu mir herüberwehen.