Der Theaterautor Dominik Busch reiste im Oktober/ November 2017 für zehn Tage zusammen mit anderen Autorinnen und Autoren durch Russland, da u.a. sein Stück Das Gelübde dort in einer szenischen Lesung präsentiert und diskutiert wurde. Für das Logbuch berichtet er in zwei Teilen über die vier Stationen dieser Reise: Moskau – Nischni Nowgorod – Tscheljabinsk – Krasnojarsk
Moskau
Wir landen gegen Abend in Moskau. Auf einem der vier Flughäfen. Beim Anflug strecken Simon und ich – wir waren beide noch nie in Russland – unsere Köpfe zum Fenster hin, sehen die Seen, sehen die Siedlungen am Ufer der Seen: große Häuser mit Gärten, und ab und an Villen mit Parks. Dann mehr und mehr Reihenhäuser. Dann Fernstraßen, manchmal achtspurig. Pfeilgerade zerschneiden sie Felder und Wälder. Schließlich die Plattenbauten der Vorstädte. Sie kommen mir noch wuchtiger, noch massiver vor als jene, die ich von Friedrichshain, Hellersdorf und Marzahn her kenne. Und jetzt, im Hintergrund, zwei von Stalins Sieben Schwestern: weiß und gezackt ragen die beiden Bauten aus dem dunklen Häusermeer. Das Wetter in Moskau sei gut, meint der Flugbegleiter mit russischem Akzent über den Bordfunk. Simon (Comiczeichner aus Bern) lacht und Nadine (sie hat unsere Reise organisiert) erklärt uns, dass man im Winter hier zum Wetter – der Himmel ist von schwarzen Wolken verhangen, es regnet und ist kalt – eine andere Einstellung habe. Während es draußen kalt ist, ist es drinnen heiß: Kaum im Flughafen, legen wir die Jacken auf unsere Rollkoffer, nach ein paar hundert Metern legen wir auch noch die Pullis oben drauf, und den Schal gleich dazu. In der Metro – auch sie stark beheizt – staune ich über die endlos langen Rolltreppen, die riesigen goldenen Kronleuchter, die großen Wände und dicken Säulen aus bernsteinfarbenem Marmor. Die Halle einer Metrostation ist so geräumig, dass darin spielend eine Herde Giraffen Platz fände. Der Durchgang von der Halle hinüber zum Bahnsteig ist so breit und so hoch, es könnten auch zwei Elefanten nebeneinander darin stehen. Und als wir den Ausgang der Metro passieren, frage ich mich, ob das Tor – rot und oval – für einen Riesen gebaut wurde. Im steten Strom mit allen Anderen komme ich mir klein vor. Wo ich bin, sind auch immer die Anderen und davon viele. Und obwohl da immer die Anderen sind und davon viele, so ist da doch vor allem dies: der Raum und die Dinge. Und Raum ist reichlich vorhanden, mehr als genug. Und die Dinge sind groß, klobig und schwer. Nicht dazu gemacht, dass einer sie wegträgt. Einer allein hat das nicht aufgebaut und einer allein wird das nicht wieder abbauen. Nichts ist leicht, nichts portabel, nichts ist handy. Eine kollektive Anstrengung hat die Dinge an ihre Stelle gebracht; und ein Einzelner wäre verrückt, wollte er sie verrücken. Wollte man hier etwas verändern, es brauchte einen kollektiven Willen oder einen Zentralwillen; ein einfacher Einzelwille aber scheint hier nicht viel zu melden zu haben. Die Raumhöhe zeigt mir, wo ich nicht hinkomme, auch wenn ich mich noch so strecke. Und die Dinge, schwer und massiv wie Findlinge in der freien Natur, setzen meinem Willen eine Grenze. Draußen ist es dunkel. Dazu leichter Nieselregen. Wir sind im Theaterviertel, in der Nähe des Roten Platzes. Vor dem Hotel treffen wir Slawa; er wird uns begleiten, er wird für uns übersetzen. In der Lobby ist es warm. Der Concierge ist herzlich, freundlich, weist uns den Weg – über die Spannteppiche – zu den Zimmern. Wir verabreden uns fürs Frühstück und gehen ins Bett. Draußen ist es kalt; es schneit. Im Zimmer ist es warm.
Nischni Nowgorod
Eine Tafel hängt neben der Tür: in den vier Landessprachen – Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch – steht: Schweizer Kultur- und Informationszentrum. Darüber: das weiße Kreuz auf rotem Grund. Als die Tür sich öffnet, sehe ich die bunten Girlanden der Kantonswappen: alle 24 hängen sie an der Decke. In der Mitte des Raumes ein Tisch, rund herum an den Wänden Bücherregale. Romane von Gotthelf und Keller, Stücke von Frisch und Dürrenmatt, ein bunter Bildband über DJ Bobo. Wir werden herzlich empfangen; bald schon halte ich eine Tasse warmen Tee in der Hand. Slawa übersetzt für uns. Dann geht es weiter. Eine knarrende Treppe und ein langer Flur führen uns in einen Raum. Hier sitzen Studenten und Studentinnen die Übersetzung studieren. Slawa und Catherine setzen sich in die Mitte. Catherine Lovey hat ihren neuen Roman Monsieur et Madame Rivaz auf Französisch geschrieben, jetzt ist er ins Russische übersetzt worden. Die Studierenden kennen den Text, darum verzichtet Catherine auf eine Lesung. Sie spricht mit den jungen Menschen übers Schreiben, über Sprache, über Bücher, und über die Unterschiede zwischen dem Französischen und dem Russischen. Das Französische sei im Hinblick auf das Verhältnis von Subjekt und Objekt eine aktive, eine vom Ich aus gehende Sprache. J’ai quelque chose. Ich habe ein Fahrrad. Ich habe ein Buch. Im Russischen, so Catherine, sei dies anders: im Russischen gäbe es kein Ich, das dann über seine Sachen verfügen könne, vielmehr werde es von diesen besessen. Das Ich ist kein Erstes, kein Anfang, es ist kein Zentrum, von wo aus es seine Pfeile hinausschießt in die Welt und auf die Dinge, indem es diese intentional anvisiert, auf sie zielt und diese meint. Das Ich zeigt nicht auf ein Objekt und sagt: Du gehörst mir. Du bist meins. Sondern im Russischen kommt das Ding zuerst und dieses hat mich. Das Objekt ist im Zentrum, das Ich hingegen ist aus dem Zentrum vertrieben, das das Ding ja einnimmt. Das Ding hat mich, und ich bin nur als derjenige, dem die Gabe zukommt, dieses Ding zu haben. Nicht: Ich habe ein Fahrrad, sondern: Mir ist ein Fahrrad. Nicht: Ich habe ein Buch, sondern: Mir ist ein Buch. Mir kommt ein Buch zu. Mir ist ein Buch gegeben. Die Welt der Dinge ist – lateinisch im wörtlichen Sinne – das Datum, das, was mir gegeben ist. Diese Eigenheit der russischen Sprache, so Catherine, habe etwas Kindliches. Wenn ein Kind mit dem Fahrrad umfalle, so würde das Kind manchmal wütend gegen das Fahrrad treten; als könnte das Rad etwas dafür, als träfe das Ding – die Tücke des Objekts – eine Schuld. Dabei wisse man, dass von dem Gefährt keine Behexung ausgehe; noch hat man kein Fahrrad entdeckt, das es böse mit einem meint. Wenn eine, wenn einer stürzt, dann trifft das Fahrrad keine Schuld. Den Zug dieser kindlichen Verwechslung sieht Catherine im Russischen am Werk. Eine Tendenz hin zu einer Passivität, einem Fatalismus, bei der sich Akteurinnen, Akteure selbst diesen Status nie so ganz zugestehen, den Dingen aber, auf welche sich Handlungen beziehen können, oder an denen sich Akteure reiben und abarbeiten, ihnen gesteht man diesen Status zu.
Die Lesung meines Stücks Das Gelübde am selben Abend im Gorki Literaturmuseum ist eigentlich eine Inszenierung und geht mir sehr nahe. Die einstündige Diskussion im Anschluss an die Vorstellung ist der blanke Wahnsinn. Die Zuschauer stehen auf und diskutieren mit Feuereifer was sie gesehen habe. Ein älterer Mann mit Tieren auf seinem Strickpullover spricht fast zehn Minuten, unterbrochen von einigen Einwürfen anderer. Eine Frau spricht über die Hauptfigur im Stück, als wäre es ihr eigener Sohn; sie spricht so liebevoll über Tim, erläutert präzise seine Gedanken, redet über seine Motivationen, als kenne sie das alles ganz genau. Die Nacht ist sternenklar. Beim Georgier essen wir frischen Fisch und gehen dann ins Bett. Morgen muss ich früh raus, weiter nach Tscheljabinsk.