Vielleicht später ist sozusagen ein defensives Mañana. Ein thematisch offenes Blog in der Jetztzeit mit Fotos, ein Versuch, in der Gegenwart zu schreiben. Die Gegenwart ist Berlin. Die Wege und Wände meist die gleichen wie in Umsonst & draußen. Vieles ist anders. Leute kommen vorbei. Die Fußball-WM, die wie Weihnachten oder Geburtstag immer zu früh kommt. An den Wänden gibt es Zeichen. Oder auf dem Boden. Wie in jedem Tagebuch geht es darum, sich selbst und die Welt im Blick des Anderen zu ordnen. In der Gegenwart. »Kommst du?« – »Vielleicht später«.
Als ich zurückkam – drei Tage Weihnachtsbesuch in Schleswig-Holstein – dachte ich an diesen Trinkerschriftsteller in dem polnischen Film Zum starken Engel von Wojciech Smarzowski.
Das Zimmer riecht nach kaltem Rauch und sieht ein bisschen verwüstet aus. Die thermo- und technograue Strumpfhose, die ich in Lübeck am Vormittag noch gesucht hatte, liegt auf einem Stuhl.
Am Vormittag hatte ich diese Strumpfhose eine Weile gesucht, weil sie zu den Anziehsachen gehört, die ich mag. Sie ist sozusagen eins der Attribute meiner selbst, auch wenn die anderen sie nicht sehen. Mir fällt ein, wie ich diese Strumpfhose dann doch wieder ausgezogen hatte, bevor ich zur U-Bahn ging; ich rufe bei meiner Schwester an und sage meinem Schwager, dass meine tolle Strumpfhose hier ist.
Ich öffne Fenster und Balkontür, packe zehn leere Bierflaschen in meine lila Berlinale-Tasche von 2007 und gehe sofort wieder raus zu Getränke Hoffmann in der Gitschiner Straße. Die Bier-Auswahl ist hier ein bisschen lieblos. In dem Getränke Hoffmann in der Blücherstraße hatte es engagiertere und interessantere Sorten gegeben. Im Sommer war die Blücherstraße leider geschlossen worden.
Das Ende der Blücherstraße war eines der Ereignisse im letzten Jahr, die meinen Alltag verändert hatten. Fast fünf Jahre war ich fast jeden Tag zu Getränke Hoffmann in der Blücherstraße gegangen, um Flaschen abzugeben, zwei Bier zu kaufen und manchmal auch Streuobstsaft. Der Getränke Hoffmann in der Gitschiner Straße ist weiter weg. Aber auch okay. Man freut sich aber nicht darauf, dort hinzugehen; die Gitschiner Straße dient lediglich der Selbstbelüftung und Versorgung.
Danach zu Netto, Essen kaufen; über die Prinzenstraße zurück, um nicht den gleichen Weg zurück zu gehen. Die nasse, kalte Luft ist angenehm. Wieder zu Hause schließe ich die Balkontür.
Ich sauge Staub, zum ersten Mal seit letztem Sommer (sonst nahm ich immer nur den kleinen Besen); wasche ab, esse ein bisschen, mache grünen Tee mit dem goldenen Sieb aus Vietnam, dass mir K. geschenkt hatte. Es ist nicht richtig praktisch, weil es so klein ist. Aber es sieht gut aus. Der Tee leuchtet golden, wenn man ihn über das Sieb gießt. Vielleicht sollte ich mir das Tee-Trinken wieder angewöhnen.
Ich möchte Wham! über Anlage hören. Der Klinkerstecker ist kaputt. In einer wenig beachteten Schublade finde ich einen Stecker, der komischerweise passt und früher zur Playstation gehört hatte.
Ich rauche Gras, trinke zwei Bier und gucke mir das Video zu Wake Me Up Before You Go-Go mehrmals an. Es ist so toll; die weißen Klamotten. Die T-Shirts mit der Aufforderung »Choose Life«, der Sprung und die UV-Lichtszene und alles. Ich mache Screenshots der einzelnen Szenen, über die man schreiben würde, wenn man das Video analysieren wollte, gucke kurz noch FB vor dem Schlafen gehen.
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Tobias, der lange bei der taz war, postet: »Der beste erste Satz, den ich je geschrieben habe. Über ein George-Michael-Konzert 2006: ›Wenn das nicht etwas Besonderes ist: ein Konzert, auf dem man seinen Friseur, seinen Dealer und seinen Vermieter trifft (und dafür keinen seiner Freunde oder Kollegen).‹«
Jetzt, zehn Jahre später, als Familienvater und SPIEGEL-Redakteur, könnte er einen solchen Satz nicht mehr schreiben und hat vermutlich auch keinen Dealer mehr, nur noch paar Leute, die er fragen könnte, die aber schon weiter entfernt oder in einem anderen Leben, stell ich mir vor und überlege kurz, wieso er »Kollegen oder Freunde« schreibt und denke danach dann wieder an anderes.
Und kümmere mich am nächsten Tag um anderes: Ich hatte die Anlage nicht richtig eingestellt, nachdem ich mir doch diesen neuen Verstärker vor zwei oder drei Jahren gekauft hatte. Ich hatte damals ein falsches Layout eingestellt, es aus Faulheit so gelassen und dann vergessen, dass man verschiedene, äh, Layouts, einstellen konnte, also dass es sowas überhaupt gibt.
In meiner Einstellung hatte es kaum Bässe gegeben, der eine Kanal war dauernd ausgefallen; unter diesen Umständen, war es nur logisch, dass Musikhören keinen Spaß mehr gemacht hatte. Jedenfalls war der Sound die meiste Zeit in dieser Wohnung ganz miserabel gewesen, ich hatte mir die Musik nicht mehr wie einen Pullover von früher anziehen können, die schicken In-Ear-Kopfhörer waren kein guter Ersatz, auch wenn es Spaß gemacht hatte, sie sofort zu kaufen, nur weil der Techniker in dem Computerladen, der sie mir empfohlen hatte, so supertoll nerdish ausgesehen hatte. Und nun hatte ich diese vielen Möglichkeiten entdeckt, den Sound zu verändern. Juchhu!
Vier Stockwerke unter mir bellt ein Hund, aber eigentlich auch nicht so, dass es stört.
Nachdem ich damals – vor drei Jahren, an einem sonnigen Nachmittag – die sechs Teile meiner Anlagen glücklich in und auf das rote Gemüseregal aus Plastik gestellt und alles irgendwie miteinander verkabelt hatte, hätte mir eigentlich sofort klar sein müssen, dass das hässlich ist. Außerdem stand der Plattenspieler auch zu wacklig, sodass man ihn eigentlich nicht mehr benutzen konnte. So blieb es drei Jahre. Irgendwann, in einem Lebensveränderungsanfall vor ein paar Jahren, hatte ich das Regal abgesägt und war ganz stolz gewesen. Aber es hatte auch nichts gebracht.
Und am nächsten Tag, gegen Mittag, hatte ich schon vormittags bei Poco-Domäne geguckt, ob es ein passendes anderes Anlagenmöbel geben würde, aber nichts gefunden und war dann beim Spazierengehen an einem kleinen schwarzen, teils türkis angestrichenen Holzregalschrank vorbei gegangen, der in einer Hauseinfahrt gestanden war, hatte überlegt, ja vielleicht, nein und ein paar Stunden später war ich mit dem Fahrrad doch noch einmal dahin gegangen und hatte es mitgenommen und meine Hände hatten mir weh getan, weil es so kalt gewesen war, während ich das Fahrrad mit dem neuen Möbelstück nach Hause geschoben hatte. Und dann hatte es wieder eine Stunde gedauert, die Anlage vom alten ins neue Möbel zu stellen. Unglaublich, wie viele Kabel man hat!
Und dann tauschte der runde Holztisch, auf dem der Fernseher gestanden hatte, seinen Platz mit dem schmalen Holzschreibtisch, der am Fenster, vor der Heizung gestanden hatte. Ich hatte den schmalen Schreibtisch nie wirklich benutzt, sondern ihn eher als Ablage für alles verwendet.
Als Fernsehtisch funktionierte der alte Schreibtisch viel besser. Auch der runde Tisch kam vor dem Fenster viel besser zur Geltung. Ich holte den alten Campingstuhl vom Balkon und saß voller Freude am leeren Tisch. Es war schön. Das Bier schmeckte so gut wie lange nicht mehr. Oder: Es schmeckte so, als hätte man eben Sport gemacht. Und dann war ich ganz begeistert gewesen an diesem Abend und hatte Lieblingslieder ausprobiert, die ich zuletzt vor drei Jahren mit gutem Sound gehört hatte. Die Boxen von Bose, die ich mir vor zwanzig Jahren bei Quelle u.a. von dem Geld gekauft hatte, das ich damals beim SPIEGEL verdient hatte, klangen immer noch gut. Und M. erholt sich nun doch so langsam und macht sich Gedanken, wie er aus dem Heim wieder rauskommt.