Vielleicht später ist sozusagen ein defensives Mañana. Ein thematisch offenes Blog in der Jetztzeit mit Fotos, ein Versuch, in der Gegenwart zu schreiben. Die Gegenwart ist Berlin. Die Wege und Wände meist die gleichen wie in Umsonst & draußen. Vieles ist anders. Leute kommen vorbei. Die Fussball-WM, die wie Weihnachten oder Geburtstag immer zu früh kommt. An den Wänden gibt es Zeichen. Oder auf dem Boden. Wie in jedem Tagebuch geht es darum, sich selbst und die Welt im Blick des Anderen zu ordnen. In der Gegenwart. »Kommst du?« – »Vielleicht später«.
Es war drei Uhr morgens. Wir guckten auf die Leinwand, und die anderen guckten auf den Fernseher hinter uns.
Seit der WM 2002, die in Südkorea und Japan stattfand, bin ich für Japan. Die WM 2002 ist die schönste in meiner Erinnerung. Sonst hatte ich immer Rumänien unterstützt; 2002 hatte ich mich dann plötzlich in eine große Begeisterung für Südkorea und Japan hineingesteigert. Weil beide Mannschaften für mich aus dem Nichts gekommen waren und dann so dynamisch als Außenseiter Spiel um Spiel gewonnen hatten. Die Japaner waren dabei etwas besser gewesen, aber dann doch im Achtelfinale ausgeschieden; Südkorea hatte dramatische Spiele (Spanien, Italien!!!) mit Glück auch für sich entschieden und war am Ende Vierter geworden. (Glück ist schöner als Verdienst.)
Dass ich diese WM noch so gut in Erinnerung habe, hat auch mit den Anstoßzeiten zu tun: Das erste Spiel fand um 8:30 Uhr MEZ statt; das zwischen Argentinien und Nigeria (1:0) sogar schon um 7:30 Uhr. Ich habe es in einer Punkerkneipe gesehen. Und das Spiel zwischen Japan und Russland (1:0) auf einer riesigen Leinwand in einer Shoppingmall in London. Am schönsten war aber Argentinien gegen England (1:0) gewesen, gegen Mittag, mit meiner argentinischen Ex-Freundin in einem Pub in Stoke Newington.
Nach dieser WM habe ich dann alle Bücher von Murakami gelesen.
Um nun das Spiel zwischen Japan und Elfenbeinküste (1:2).
Wahrscheinlich finde ich Japan immer ziemlich gut, weil es mir einerseits nahe liegt – ich kenne so viele japanische Filme und Bücher – und andererseits so fern – wahrscheinlich werde ich nie nach Japan fahren. Weil die japanischen Spieler kleiner sind als die meisten Spieler der anderen Mannschaften, kann ich mich besser mit ihnen identifizieren. Ihre Körper sind mir ähnlicher als die der deutschen Nationalspieler. Ich weiß, wie es ist, in einem kleinen, schmächtigen Körper Fußball zu spielen. (Gegen Leute, die doppelt so groß sind.)
Die japanischen Spieler wirken immer jünger als ihre Gegner. Oft sieht es so aus, als wäre Japan eine A-Jugendmannschaft, die gegen eine Herrenmannschaft spielt. Mein liebstes Spiel einer japanischen Mannschaft war allerdings das Finale der Fußball-WM der Frauen 2011 zwischen Japan und den USA, das die »Prachtnelken« bekanntlich im Elfmeterschießen 5:3 für sich entschieden.
Auf dem Weg ins heimische Stadion, im Club49 in der Ohlauer Straße. Die Hälfte der Spiele – ich gucke alle – sehe ich allerdings auswärts. Zwei, drei ehrlich gesagt auch zu Hause.
Es regnet ein bisschen, als die Elfenbeinküste am frühen Abend gegen Kolumbien verliert. Draußen vor der Leinwand stehen schüchtern zwei Afrikaner. Sonst niemand. »Wollt ihr euch nicht setzen?« – »Nein, nein, kein Problem.«
Wir gucken drinnen. Sieben Leute; Kolumbianer sind auch dabei. Ich denke an René Higuita. Tags zuvor hatte ich mir eine Stunde lang Videos der kolumbianischen Torwartlegende angeschaut. So super! Ein Torwart wie Higuita wäre heutzutage auf einem großen Turnier nicht mehr denkbar.
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Weedmann sieht ziemlich blass aus. Jede Nacht um drei ins Bett; jeden Morgen ab neun wieder im Büro. Die erste Hälfte des Tages ist man verkatert und bemüht sich, den Restrausch zu überspielen; die zweite Hälfte des Tages angedichtet. Entschlossen gucken wir wie immer alles; irgendwie ist es auch eine Frage des Respekts, alles zu gucken.
Weedmann ist Fußballexperte und war mal ein guter Mittelfeldspieler. »Die meisten Menschen hab ich durch Fußballspielen und Kiffen kennengelernt.«
Dass Uruguay später gegen England gewinnt, gefällt mir sehr gut, auch weil Uruguay bekanntlich Cannabis legalisiert hat. Vielleicht auch weil Rooney, den ich aus irgendwelchen Gründen klasse finde, nach seiner Haartransplantation nicht mehr so gut aussieht. Schönes Spiel!
»HATE FIFA« steht da, auf dem Bürgersteig in der Gitschiner Straße.
Weedman sagt, die zwei Japaner, die für Nürnberg spielen, seien schuld gewesen am Abstieg seiner Lieblingsmannschaft. Deshalb ist er gegen das japanische Team. »Die Japaner spielen Disneyland-Fußball.« Außerdem ist der Wedding mit fünf Leuten bei dieser WM vertreten: 2 x Boateng, 2 x mal Kovač im Trainerstab von Kroatien und Ashkan Dejagah im iranischen Team.
Ach, was ist nur aus meinen Japanern geworden! Die zehn Leute, die im Wowsville, einer spanischen Bar mit angeschlossenem Plattenladen, gucken, sind ein bisschen desinteressiert und unterhalten sich lieber, als Japan zu unterstützen. Alberto, der Wirt, ist noch ein bisschen traurig; ich sage »herzliches Beileid« und »the king is death, long live the king!« Japan hat 70% Ballbesitz, kommt aber über ein 0:0 gegen Griechenland nicht hinaus. Flanken in den Strafraum bringen nichts, da die Griechen viel größer sind. Wenigstens spielt Uchida prima.
Oft hatte ich davon geträumt, auszusehen wie ein Japaner.
….
Dienstagabends dann wieder zum Club49 in die Ohlauer Straße. Es ist nachdenklich-grau, nicht kalt, nicht warm. Komisch, wie leer die Skalitzer Straße ist. Wie leer Berlin manchmal im Sommer ist. (Es ist doch Sommer, oder?) Da und dort Polizisten. Ich steige vom Fahrrad ab, weil es so fehlerhaft ist und ich auch keine Lust habe, auf der Straße zu fahren. Ab der Prinzenstraße Polizeisperren. Viele Mannschaftswagen. Polizeiaufläufe. Der Weg über die Reichenberger Straße zum Club49 ist gesperrt; die Gerhard-Hauptmann-Schule, in der über 200 Flüchtlinge, Roma, Obdachlose seit Ende 2012 vom Bezirk geduldet gelebt haben, wird geräumt. 900 Polizisten sind im Einsatz. 800 Demonstranten demonstrieren. Keine Ahnung, ob die Demonstration, die sich gerade anbahnt, nun sinnvoll ist oder nicht.
Ich grüße Weedman, der mit Freunden auf einer Bank draußen sitzt, gehe in den Club, gebe dem Wirt seine Kamera zurück.
»Du zeigst bestimmt das Griechenland-Spiel …« – »Ja.« – »Dann fahre ich mal wieder nach Hause.«
Vor dem Club49 schaue ich in das Gesicht eines jungen Polizisten. Ich bin mir fast sicher, dass ich ihm schon einmal, beim Ersten Mai, ins Gesicht geschaut habe. Wie damals habe ich den Eindruck, dass er die schwarzgekleideten Demonstranten verachtet, die sich nur wenige Meter vom Club entfernt sammeln. Im Fenster eines Mannschaftswagens hängt eine Deutschland-Girlande.
Auch auf dem Rückweg über die Urbanstraße Richtung Zossener ist alles still, bis auf Polizeisirenen von Weitem. Außer Atem zu Hause. Ich bin mir halbwegs sicher, dass Japan ausscheiden wird, möchte die Mannschaft aber unbedingt noch einmal spielen sehen.
Bei dieser WM spielt Japan so ähnlich wie Schalke 04 an schlechten Tagen. Ich gucke auch alle schlechten Spiele von Schalke 04 (mit Freude und dank des Internets), weil ich seit meiner Kindheit Schalke-Fan bin. … Der Schalker Rechtsverteidiger Uchida ist der beste Spieler Japans bei diesem Turnier. Wie Schalke spielt auch Japan in Blau-Weiß. »Die Physis ist nicht auszugleichen«, sagt der Reporter.
Ich gucke Japan gegen Kolumbien im Livestream am Schreibtisch, während das Parallelspiel Griechenland – Elfenbeinküste im Fernseher läuft. Die Japaner spielen ganz okay, jedenfalls nicht schlechter als die Kolumbianer. Auf dem Computermonitor läuft gerade noch ein vielversprechender Angriff der Japaner, als im Fernseher plötzlich vom Griechenland- zum Japan-Spiel gewechselt wird: »Elfmeter für Kolumbien«. Die Fernsehübertragung ist ihrer Zeit um etwa zwanzig Sekunden voraus.
Ich schalte den Fernseher wütend aus. So hab ich mir die Zukunft nicht vorgestellt! Tatsächlich gibt es nun auch in meiner Internet-Live-Übertragung einen Elfmeter für Kolumbien. Die Japaner spielen besser als die Spiel zuvor, aber auch nicht wirklich gut, sondern viel zu langsam und ordentlich und immer im gleichen Tempo. Sie haben fünf gute Chancen, aber kein Glück. Kurz vor der Pause gibt es dann doch das 1:1; eine viertel Stunde lang bin ich guten Mutes.
Nach der Pause mache ich aber einen entscheidenden Fehler: Anstatt ganz normal weiterzugucken, probiere ich die vom ZDF für alle Internetgucker bereitgestellte »Draufsicht-View« aus. Die Draufsicht verwirrt mich, ich kann mich nicht richtig auf die Spieler konzentrieren. So fällt das 2:1 für Kolumbien. Die Japaner haben mehr Ballbesitz, sie haben auch ein paar Chancen und am Ende viel öfter aufs Tor geschossen als die Kolumbianer. Aber es gelingt ihnen zu selten, wirklich Druck aufzubauen. Wie man so sagt.
Hätten sie gewonnen, wären sie weitergekommen. So einfach ist das. Nach dem vierten Tor der Kolumbianer in der 90. Minute verlasse ich das Internet wieder, gucke eine interessante Reportage über Kolumbien im Fernsehen. Und bekomme so tatsächlich erst am nächsten Tag mit, dass Griechenland weitergekommen ist. (Was mich nicht wirklich freut.)
Richtig schön aber war dieser festliche Moment in der 85. Minute, als Faryd Mondragón eingewechselt wurde. Mit 43 Jahren und drei Tagen ist der kolumbianische Ergänzungstorhüter nun der älteste Spieler, der je bei einer WM spielte. Bis dahin hatte der große Roger Milla diesen Rekord gehalten. Der Kameruner Publikumsliebling war 42, als er 1994 sein letztes WM-Spiel absolvierte.