Vielleicht später ist sozusagen ein defensives Mañana. Ein thematisch offenes Blog in der Jetztzeit mit Fotos, ein Versuch, in der Gegenwart zu schreiben. Die Gegenwart ist Berlin. Die Wege und Wände meist die gleichen wie in Umsonst & draußen. Vieles ist anders. Leute kommen vorbei. Die Fussball-WM, die wie Weihnachten oder Geburtstag immer zu früh kommt. An den Wänden gibt es Zeichen. Oder auf dem Boden. Wie in jedem Tagebuch geht es darum, sich selbst und die Welt im Blick des Anderen zu ordnen. In der Gegenwart. »Kommst du?« – »Vielleicht später«.
Ein Klassiker aus der Zeit, als es noch Posterkeller gab.
Alleinerziehende Alienfamilie.
Zeitgleich zur Eröffnung des DOK-Filmfestes fand eine LEGIDA-Demonstration statt. Angeblich hätten sich 500 Leute den Eröffnungsfilm in der Eingangshalle des Bahnhofs angeschaut.
Vor dem Festival hatte ich wieder keine Lust, hinzufahren. Weil ich schon so oft seit Anfang der 90er da gewesen war. Und in diesem Jahr besonders, weil immer noch irgendwas kaputt ist. Und ich mich eigentlich um einen neuen Arzt bemühen sollte. Aber es ist, glaube ich, nur was Mechanisches. Und weil mir die Abschlusstexte immer misslingen. Ich hatte Angst, dass das lange Sitzen weh tun würde, aber alles läuft überraschend gut. Vielleicht auch, weil die Kinositze besser sind als mein Schreibtischstuhl. Das Festival hat diesmal auch etwas Therapeutisches. Ich rauche wenig, trinke kaum Alkohol.
Die Tage sind erfüllt. Ich steh um acht auf, frühstücke, gehe um zehn in den ersten Film. Gehe spazieren zwischen den Filmen oder esse Fischbrötchen. Wie die anderen saß auch er immer an der gleichen Stelle. Und ich drehte mich dann noch einmal um und ging zu ihm hin, sein Blick tat mir wohl.
Mein Lieblingsfilm kommt aus Südkorea und heißt With or Without you. Zum Glück hatte mich die arte-Kollegin auf diesen Film hingewiesen, als ich nach dem Frühstück vor dem Hotel rauchte. Park Hyuck-jee erzählt von zwei alten Frauen, die seit 45 Jahren zusammen leben. »In Südkorea war es bis 1960 üblich, eine Leihmutter in die Familie zu holen, wenn eine Frau nicht in der Lage war, ein Kind auszutragen. So kam Chun-hee in Magg-is Familie, hat eine Tochter für sie zur Welt gebracht und blieb.« (Katalog) Der Mann ist schon lange tot. Beide laufen unglaublich gebückt durch die Gegend. Sie sind bei der Arbeit, sie bestellen das Feld, machen sauber, scherzen miteinander. Es ist schwer, sich die Bluse überzuziehen, wenn man 90 Grad krumm ist. Es ist so schön, den beiden zuzusehen. Die ehemalige Leihmutter ist etwas jünger und kann nicht so gut denken oder eher zählen. Sie lebt in einer symbolischen Freundschaft mit der Mutter, die sich Sorgen macht, was wohl aus ihrer Freundin werden wird, wenn sie nicht mehr ist. Die Beziehung der beiden und wie sie miteinander agieren. Die gemeinsame Sprache. Sie spielen gerne, alles ist völlig unsentimental und oft auch komödiantisch.
Den englischen Filmemacher John Smith hatte ich 1997 kennen und schätzen gelernt, als sein Film Blight die Goldene Taube für den besten Kurzfilm gewann. Ein hypnotisches »Kill the Spider!« war das Mantra dieses Films gewesen, der vom Abriss eines besetzten Hauses in East London handelt. Der Film hatte komplett meiner technoverpeilten spätjugendlichen Gefühlslage entsprochen; ich glaube, auch der von Grit und vielen anderen mit unterschiedlicher Vorgeschichte. Etwas war zu Ende, und man wusste nicht so recht, wie es weiter geht; man schimpfte noch gerne mit großer Begeisterung, aber glaubte vielleicht auch nicht mehr ganz so dran. Es gab auch einen russischen Film von Vitaly Mansky, Found Footage, Super-8-Aufnahmen, die nostalgisch-beatnikmäßig waren. 89 war noch nah, aber begann sich langsam zu verabschieden. Blight hatte etwas Abschiedmäßiges gehabt; als Künstler kam Smith aus der Linken und hatte sich früher auch Illusionen gemacht, als er in Polen war und sich erst freute, dass es keine Reklame gab und nicht hundert Sorten von irgendwas. Er sagt, er sei Amateursemiologe. Ich freute mich als ehemaliger Semiologie-Fan. Filme von Profisemiologen sind selten unterhaltsam. In diesem Jahr drehte John Smith den minimalistischen Festivaltrailer, der vom Versuch handelt, eine Dokumentation über eine Fliege an der Wand zu drehen, aber die Fliege will immer nur zur Decke. Er wurde mit einer Hommage geehrt, und es war super, seine Filme wieder zu sehen, die mittlerweile wohl vor allem in Galerien laufen. Hier spricht er mit Grit Lemke, der Programmleiterin von DOK-Leipzig.
John Smith; Dad’s Stick (2012), ein Film über den verstorbenen Vater.
Sein berühmtester Film ist auch auf YouTube.
Gegen Mittag. Gegenwärtig, geordnet und sinnvoll.
🙂
Nacht.
Besonders gut an dem Zimmer gefiel mir auch, dass BBC im Fernseher drin war. Auch absurd, dass man beim BBC-Gucken nostalgisch wird, weil man zu Haus schon lang kein BBC mehr hat, viele Jahre davor aber dauernd BBC geguckt hatte. Ich genieße es, nach getaner Arbeit auf dem Hotelbett zu liegen, das so angenehm hart ist, weil meines zu weich ist, weil ich aus Versehen … Und dann, wenn sich der Körper auf die Härte und die Stille wieder eingestellt hat, muss man wieder weg. Ach was.
Ausdemfenstergucken, rauchen. Am nächsten Tag stehst du wieder auf, stehst unter der Dusche, isst Frühstück mit den anderen, bist den ganzen Tag unterwegs und lernst von der Welt. Nur das Essen muss besser organisiert werden.
Du atmest durch, guckst aus dem Fenster, gleich gibt’s wieder Winter, o weh! Und das ist die Uni, oder?
Der letzte Zug. Wir sind zu viert im Speisewagen. Der Kellner mit süddeutschem Akzent, zwei Männer wie ich, der Dünne trinkt zwei Latte Macchiato, der andere isst was, wie ich. Ich bin hungrig, das Essen schmeckt mir gut, ich gucke aus dem Fenster und auf die anderen; und denke daran, wie ich mich einmal tatsächlich als Bahnbegleiter beworben hatte. Und nicht genommen worden war, weil ich zur Einführung zu spät gekommen war.