Vielleicht später ist sozusagen ein defensives Mañana. Ein thematisch offenes Blog in der Jetztzeit mit Fotos, ein Versuch, in der Gegenwart zu schreiben. Die Gegenwart ist Berlin. Die Wege und Wände meist die gleichen wie in Umsonst & draußen. Vieles ist anders. Leute kommen vorbei. Die Fußball-WM, die wie Weihnachten oder Geburtstag immer zu früh kommt. An den Wänden gibt es Zeichen. Oder auf dem Boden. Wie in jedem Tagebuch geht es darum, sich selbst und die Welt im Blick des Anderen zu ordnen. In der Gegenwart. »Kommst du?« – »Vielleicht später«.
Wir hatten noch einen Kaffee in der Sonne getrunken, und sie hatte erzählt, dass sie in ein paar Stunden für einige Tage nach Schweden zu einem Workshop fahren würde, und ich hatte angeboten, auf ihre Wohnung aufzupassen. Damit die Wohnung nicht plötzlich wegrennt und nicht mehr da ist, wenn sie zurückkommt.
Und als sie dann weg war, war ich in die Wohnung gegangen. Ich hatte eine alte hellblaue Jeans an, die schon ziemlich kaputt war, aber frisch gewaschen, und ein blaues T-Shirt. Der Weg ist nicht weit, auch wenn die Gegend ganz anders ist. Auf der einen Seite der Blücherstraße die kleinen Straßen und Altbauten, auf der anderen, Richtung Mehringplatz, Neubauten aus den 1950er Jahren.
Ich kenne das Haus gut; ich hatte hier fast zwanzig Jahre lang in unterschiedlichen Wohnungen gelebt. Und nachdem ich alle Wohnungen wie der Held in Kotzwinkles Erzählung Fan Man verwüstet hatte, war ich weitergezogen.
Meine Wohnung ist klein und Neubau; die Wohnung von A. ist groß und Altbau. Auch A.s Wohnung kenn ich schon lange. Alles fühlt sich ganz anders an. Die Erinnerung sagt, das bin ich. Ich fühle mich zu Hause im emphatischen Sinne sozusagen. Aber es ist eben auch früher, also nicht mehr. Ich bin zu Gast in einem früheren Leben, auch wenn alles anders aussieht. Ein bisschen ist es auch so ähnlich wie als Kind, wenn die Eltern weg waren und man die Wohnung untersucht hat und ein bisschen Angst hatte, dass die Eltern zurückkommen, bevor man alles untersucht hatte.
Ich trinke und rauche auf dem blauen Ledersofa und bin ganz begeistert von den vielen Fernsehprogrammen in dem kleinen Fernseher, der vermutlich auch schon 15 Jahre alt ist. In meinem Antennenfernsehen gibt es nur deutschsprachige Sender; in A.s Wohnung gibt es französisches Fernsehen, CNN, BBC und solche Sachen, die man zu wenig schätzt, wenn man sie hat.
Sie reden über Trump im dreigeteilten Schirm; das Zahnweh hat sich wieder in den Hintergrund zurückgezogen. Beim Drehen krümele ich den Glastisch vor dem Sofa voll. Alles ist perfekt. Ich schlafe gut, obgleich es keine Vorhänge gibt.
Mehrmals am Tag mach ich selbstausgedachte gymnastische Übungen und gehe spazieren in der Gegend. Vor ein paar Tagen war der zehnte Todestag von Harald Fricke. Der alte Freund hatte hier auch lange gewohnt. Ich gehe auf den Friedhof in der Bergmannstraße, finde aber sein Grab nicht mehr. Ich variiere unterschiedliche Wege, aber finde es nicht, dafür treffe ich ein kleines Eichhörnchen. Es erinnert mich an das Eichhörnchen »Bowie«, das über ein Jahr auf meinem Balkon gewohnt hatte und dann verschwunden war. Ich sage, hallo, wie geht’s, es bleibt aber nur kurz und läuft dann mit einer Walnuss, die es im Boden zwischen Grab und Baum gefunden hat, wieder davon. Anstatt noch weiter mit mir zu reden.
Den halben Tag höre ich CD’s. Vor allem Disco, Northern Soul, Reggae, Boards of Kanada. Kompilationen mit Titeln wie »Eccentric Soul«, »Disco-Spectrum – Real Music for Real People«, »Mastercuts Northern Soul«, Boards of Kanada und das tolle »One World One Future«-Album von Armando.
A. hat wahnsinnig viele CDs. Ich fühle mich wie ein kleiner Junge für eine Nacht allein im Plattenladen. Die Boxen sind sehr gut; die Musik klingt klasse in dem großen Raum. Das Licht ist schön in der Wohnung am Abend und auch der Blick aus dem Fenster.
Alles ist wie Urlaub in dieser Woche und wie im Urlaub gibt es unterschiedliche Phasen; am ersten Tag ist man total geflasht, alles ist neu, obgleich es vertraut ist, es ist auch, als wäre man untergetaucht, weil kaum jemand weiß, dass ich hier bin. Man träumt vom nomadischen Leben und geht manchmal kurz nach Haus, um die Blumen zu gießen. Dann bildet man Gewohnheiten, die Tage vergehen schneller gegen Ende. Man frühstückt ein letztes Mal und blickt auf die Straße am Sonntagvormittag. Eine junge Frau, in jeder Hand ein Bier, geht mit leicht übertrieben optimistisch entschlossenem Schritt vermutlich zurück zu ihrer Afterhour. Und zu Hause fühlt sich später dann wieder alles anders an.
Als ich zurückkam, war es immer noch heiß. Komischerweise kam mir eine Weile alles plötzlich wieder wie neu vor. Dann war die Digitalkamera kaputtgegangen, der An- und Ausschalter war herausgefallen. Ich fotografierte mit der Minolta von 1982. Der Film hatte lange in der Kamera gelegen;die Bilder von Bowie, dem Eichhörnchen, sind noch von 2015.
Im letzten Herbst war es dann verschwunden.