Vielleicht später ist sozusagen ein defensives Mañana. Ein thematisch offenes Blog in der Jetztzeit mit Fotos, ein Versuch, in der Gegenwart zu schreiben. Die Gegenwart ist Berlin. Die Wege und Wände meist die gleichen wie in Umsonst & draußen. Vieles ist anders. Leute kommen vorbei. Die Fussball-WM, die wie Weihnachten oder Geburtstag immer zu früh kommt. An den Wänden gibt es Zeichen. Oder auf dem Boden. Wie in jedem Tagebuch geht es darum, sich selbst und die Welt im Blick des Anderen zu ordnen. In der Gegenwart. »Kommst du?« – »Vielleicht später«.
Seltsam, wie die WM so vorbeigeht. Ich hatte erwartet, mich wie bei den letzten WMs hineinzusteigern, aber es war gar nicht so. Ich schaute fast alles, es machte auch Spaß, ich machte mir tausend Notizen, aber war eigentlich doch mit den Gedanken woanders. So ähnlich ging es vielen, mit denen ich sprach. Die Gründe dafür sind schnell genannt: Die politische Wirklichkeit schob sich dazwischen, die Vuvuzelas fehlten; so wild und jung wie früher wirken die Unsrigen auch nicht mehr.
Vielleicht guckten gar nicht weniger Leute in der Berliner Öffentlichkeit als noch vor vier Jahren, aber es verteilte sich. Vor vier Jahren hatte vielleicht die Hälfte aller Kneipen in der Berliner Innenstadt Fernseher und Leinwände aufgestellt, nun taten es fast alle. Was dazu führte, dass viele Public-Viewings ausfielen oder – wie hier beim Ärztezentrum an der Bergmannstraße – kaum besucht wurden: 800 Leute hätten schätzungsweise Platz gehabt, 12 schauten sich das Viertelfinale zwischen Argentinien und Belgien an.
Die Bergmannstraße war an diesem Samstag für Autos gesperrt. An Leinen hingen Liebesgeschichten, die Schüler gesammelt hatten.
Dann das Spiel gegen Brasilien.
Erst zu Hause. Zu Hause ging nicht.
Schnell in die Heilig-Kreuz-Kirche am Blücherplatz. Eine Freundin war hier vor ein paar Jahren zurückeingetreten, weil sich die Gemeinde sozial engagiert, für Flüchtlinge und Obdachlose.
Die Stimmung ist ein bisschen betreten. Alle schweigen, 50 Leute gucken. Alle paar Minuten ruft ein Obdachloser (keine Ahnung, ob er es wirklich ist) »Deutschland, Deutschland«. Niemand reagiert zunächst. Erst später sagt ihm wohl jemand von der Kirche, dass das doof ist, und er ruft dann ab und an »Brasilien« bzw. »Paulinho«, um dann doch wieder zurückzukehren zu »Deutschland, Deutschland«.
Dann wieder draußen; es ist wie in der Waschküche. Die Straßen sind leer, die Stimmung fast betreten. Der »Obdachlose« steht mit seiner Freundin noch vor der Kirche und sagt: »Da gehen wir nie wieder hin.« Als ich später von der seltsamen Stimmung auf Facebook berichte, schreibt ein Kollege vom Spiegel: »Ja, am Ende haben sich alle geschämt, oder? Deutsche Spitzentugend.« In meiner Gegend wohnen aber vor allem Migranten.
Triumphgeheule von Weitem eigentlich erst ab halb eins. Fast bin ich glücklich und genieße es, im Licht des Laptopbildschirms zu schreiben. Meine Tippegeräusche mischen sich in den nächtlichen Verkehrslärm vieler vereinzelter Fahrzeuge. Es ist drei Uhr nachts.