Vielleicht später ist sozusagen ein defensives Mañana. Ein thematisch offenes Blog in der Jetztzeit mit Fotos, ein Versuch, in der Gegenwart zu schreiben. Die Gegenwart ist Berlin. Die Wege und Wände meist die gleichen wie in Umsonst & draußen. Vieles ist anders. Leute kommen vorbei. Die Fussball-WM, die wie Weihnachten oder Geburtstag immer zu früh kommt. An den Wänden gibt es Zeichen. Oder auf dem Boden. Wie in jedem Tagebuch geht es darum, sich selbst und die Welt im Blick des Anderen zu ordnen. In der Gegenwart. »Kommst du?« – »Vielleicht später«.
Wenn ich B besuchte, verlief ich mich oft im Treppenhaus. Das kam daher, dass ich ihn nur alle paar Monate besuchte, und lag wohl auch daran, dass seine Wohnung so höhlenartig war. Still und halbdunkel irgendwie, in Erdtönen gestrichen, außerhalb der Zeit, die in seinem Leben nicht so ruckartig, sondern eher gemächlich verging.
Deshalb hatte man in seiner Wohnung immer das Gefühl, in einer Erdgeschosswohnung zu sein, und wenn man sie verließ, wunderte man sich, dass man im zweiten Stock gewesen war. Und wenn man ihn wieder besuchte, erinnerte man sich an dies Gefühl der Verwunderung und meinte – weil sich die Verwunderung in der Erinnerung vergrößert hatte –, B’s Wohnung müsse unter dem Dach liegen.
Er wartete ja auch nie an der geöffneten Tür, sondern ließ sie einen Spalt offen stehen in der Annahme, man werde den Weg schon in sein Zimmer finden.
Meist ging ich jedenfalls zunächst in den vierten Stock, schüttelte dort, verwundert über meine Vertrottelung, den Kopf und ging dann wieder dahin, wo er in Wirklichkeit wohnte.
B gehörte zu den wenigen, bei und mit denen man gut herumsitzen konnte. Er war ein Kind der frühen 70er sozusagen und wohl mal Hippie gewesen. Als ich ihn das erste Mal mit einem Freund besuchte, lief eine alte Platte von Aphrodite’s Child. Wir hatten über die psychedelische Phase von Demis Roussos gesprochen, und er hatte sich gefreut, dass ich das kannte.
Meist saß er an seinem Tisch und trank Rotwein aus Tetrapaks, während der auf Leise gestellte Fernseher lief. Manchmal kamen andere und erzählten etwas. B hörte gerne zu. Wenn eine Geschichte stockte, hakte er kurz nach. Auf Streitgespräche ließ er sich niemals ein.
Es war gut, wenn Dritte kamen, denn eigentlich schwieg ich auch lieber und überlegte, ob die Zukunft im vierten Stock und die Vergangenheit im Keller oder Erdgeschoss wohnen müssten und wie die Erinnerung da wieder rauskommen könnte.
In der Erinnerung sind die Vorhänge alt und schwer und die wenigen Möbel alle von früher. Wenn man da ist, ist es anders, als man es sich zuvor vorgestellt hatte. Das Erinnerungsbild ist eine Tarnung, die sich über die Wohnung legt, sobald man sie verlässt. Erst nach zwei Jahren hatte ich gemerkt, dass B’s Wohnung perfekt gestrichen und eingerichtet war, dass jedes Ding an seinem richtigen Platz stand. Und an keinem anderen Ort hätte stehen können. (2002)
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