Vielleicht später ist sozusagen ein defensives Mañana. Ein thematisch offenes Blog in der Jetztzeit mit Fotos, ein Versuch, in der Gegenwart zu schreiben. Die Gegenwart ist Berlin. Die Wege und Wände meist die gleichen wie in Umsonst & draußen. Vieles ist anders. Leute kommen vorbei. Die Fussball-WM, die wie Weihnachten oder Geburtstag immer zu früh kommt. An den Wänden gibt es Zeichen. Oder auf dem Boden. Wie in jedem Tagebuch geht es darum, sich selbst und die Welt im Blick des Anderen zu ordnen. In der Gegenwart. »Kommst du?« – »Vielleicht später«.
Ich machte noch ein paar Fotos und schickte die Kamera dann wieder zu meinem eBay-Partner. Oder eigentlich war es so: Ich sah, dass er die gleiche Kamera schon wieder, für den gleichen Preis auch, in’s Netz gestellt hatte und fragte, ob wir nicht umtauschen könnten.
Mein ebay-Freund entschuldigte sich dafür, dass der Apparat nicht in Ordnung gewesen war, sagte okay, klar, wird umgetauscht, und versprach, das gleiche Modell auch gleich zur Post zu bringen. Wir telefonierten, und alles war gut.
Am nächsten Tag begann der Poststreik.
Meine erste Digitakamera
Nun steh ich ohne Kamera da. Vielleicht war die Kamera mit dem Autofokusfehler doch nicht so schlecht. Vielleicht hätte ich sie behalten können.
Meine erste Digitalkamera hab ich noch. Sie entspricht aber nicht mehr meiner Stimmung.
Morgens um sieben werfen mich die polnischen Handwerker aus der Nachbarwohnung aus dem Bett. So schaffe ich es endlich, zum Arzt zu fahren. Ein Freund hatte mir seinen Namen verraten. Er wohnt in Wilmersdorf. Ich fahre mit dem Rad, das gerade repariert worden war. Es ist heiß. Auf halber Strecke, kurz vor der CDU, explodiert mein Hinterreifen, ein paar Meter fahr ich noch auf der Felge. Zwischen Felge und Reifen tritt der Schlauch aus in Wülsten. Die Reparateure hatten ihn wohl zu sehr aufgepumpt. Ich lasse das Fahrrad stehen und gehe zu Fuß weiter bis zur Wilmersdorfer Straße. Schnell noch eine Zigarette, dann nichts wie hinein in die gute Stube. Die Sprechstundenhilfe weist mich ab, weil kein Foto in meinem Krankenkassenausweis ist. Alle Fotoanfragen der AOK hatte ich vor ein paar Jahren ignoriert, weil ich dagegen bin. Ich hatte mich in eine regelrechte Hysterie hineingesteigert, als mir die AOK immer wieder Briefe schrieb, weil sie ein Foto von mir wollten.
Ich würde ohne Probleme einen neuen Krankenkassenausweis bekommen, sagt die Sprechstundenhilfe. In der U-Bahn werde ich zum Glück nicht erwischt. Bei der AOK ist es super. Die Mitarbeiterin gibt mir einen Zettel, auf dem steht, dass ich tatsächlich krankenversichert bin und fotografiert mich dann mit einer kleinen Lumix. Da ich das Foto nicht sehe, stört es mich nicht. Zuhause sind die Handwerker immer noch am Hämmern. Aber nicht mehr ganz so laut.
Der ganze Tag ist sinnvoll und bevölkert mit vielen Menschen. Um 18h ein Termin in der FU. Wie fast immer wollte ich den Auftrag zunächst wegen Inkompetenz absagen und freue mich, wie immer, dass ich ihn wahrnehme. In der U-Bahn komm ich gar nicht zum Lesen, weil alles so interessant ist.
Ich steige Thielplatz aus, gehe den Landoltweg entlang, am philosophischen Institut vorbei und erinnere mich, an die Uni, die schöne, begehrenswerte Welt des Denkens und Wissens, an das Raumschiff FU mit seinen vielen Satelliten, deren seltsame Bewohner (z.B. Sportwissenschaftler, Juristen, BWLer) man beim Großen Studentenstreik, 1989, kennenlernte.
Das denke ich aber jetzt erst beim Schreiben, fällt mir gerade auf. Als ich den Landoltweg entlanggehe, nehme ich alles eher gedankenlos wahr, ganz kurz nur stell ich mir vor, später zu lügen, ich hätte hier in Dahlem draußen geschlafen, weil es hier so schön ist.
Manchmal sollte man ja etwas Entschiedenes und Mutiges machen. Oder zumindest so tun als ob.
Es dauert eine Weile, bis ich das Seminarzentrum finde und in den Saal husche. Die Veranstaltung ist schon im Gange. 100 Leute sind vielleicht da. Gertrud Koch hat wohl gerade erzählt, dass sie doch keinen Vortrag halten wird. Stattdessen spricht ihr wissenschaftlicher Mitarbeiter Dr. Chris Tedjasukmana über Videoaktivismus 2.0 und solche Dinge. Es ist sehr warm und macht Spaß, hier zu sitzen. Komischerweise fühl ich mich in der Uni immer noch heimisch und notiere alles mit einem orangenen Kugelschreiber, den mir Götz Müller von der CDU einmal geschenkt hatte.
Irgendwann zeigt Chris Tedjasukmana den berühmten Toilettenmann-Ausschnitt aus dem Alexander-Kluge-Film Krieg und Frieden, der von der großen Friedens-Demonstration 1982 in Bonn berichtet. Witzigerweise war ich auch dort gewesen, und es war ein großer Spaß gewesen, alle Mitdemonstranten mit »hallo Friedensfreund« anzureden.
Ich kann nicht alles genau verstehen, weil ich viele der erwähnten aktuellen DenkerInnen nicht kenne. Ich freue mich schon auf die Zigarette danach, und dann ist der Vortrag schon zu Ende, und Gertrud Koch hebt noch einmal hervor, dass es sich bei Video und Film um zwei unterschiedliche Medien mit einer unterschiedlichen Zeitlichkeit handelt. Der Film ist spät, das Video ist schnell. In ihm weht noch »der Atem des Dagewesenseins«. Ich denke an die Livestreams vom Gezi-Park und dem Maidan, die ich tagelang geschaut hatte, und wie einen als Zuschauer diese Gleichzeitigkeit komplett paralysiert hatte. Und mir gefällt, wie die Heldinnen und Helden der eigenen Studienzeit nur noch leiser werdend mitklingen und andere Namen nun den Himmel der Ideen bevölkern.