Vielleicht später ist sozusagen ein defensives Mañana. Ein thematisch offenes Blog in der Jetztzeit mit Fotos, ein Versuch, in der Gegenwart zu schreiben. Die Gegenwart ist Berlin. Die Wege und Wände meist die gleichen wie in Umsonst & draußen. Vieles ist anders. Leute kommen vorbei. Die Fußball-WM, die wie Weihnachten oder Geburtstag immer zu früh kommt. An den Wänden gibt es Zeichen. Oder auf dem Boden. Wie in jedem Tagebuch geht es darum, sich selbst und die Welt im Blick des Anderen zu ordnen. In der Gegenwart. »Kommst du?« – »Vielleicht später«.
Ich bin dabei, die Krawalle im Livestream bei SPON zu gucken, und versumpfe dann ein paar Tage bei Facebook in verschiedenen Diskussionen über die sogenannte Gewalt und den sogenannten Schwarzen Block; eine Weile machen die Gespräche und die Nachrichten, die so eintrudeln, Spaß, man kennt sich ja aus mit der Geschichte linker Proteste und weiß Details zu würdigen.
Mein Freund, der Terrorismusexperte, schreibt, die Geschichte habe gezeigt, siehe Hausbesetzungen und AKW, und so weiter; ich widerspreche und schreibe was von »revolutionären Millionären« und gleichzeitig ärgere ich mich, dass ich einen Streit von vor zehn oder zwanzig Jahren wiederhole. Damals hatte er gesagt, er könne die Jüngeren nicht richtig ernst nehmen, weil sie nicht bei den Schlachten von Brokdorf, Wackersdorf und Weiß-der-Geiersdorf dabei gewesen seien; wie sehr mich das empört hatte. Doch eigentlich habe auch ich kein Rederecht, lösche meine Posts dennoch nicht, denke kurz noch an den besetzten Platz in Gorleben, die »Republik Freies Wendland«, im Grunde genommen war das meine einzige Erfahrung mit alternativem Leben.
Es war ein heißer Frühling gewesen und ich war ein Fan von Bernward Vesper, dessen Foto über meinem Schreibtisch hing. In Gorleben hatte ich die zwei Bände mit den Nachdrucken der Zeitschrift Kursbuch aus den Jahren 1966–1970 gelesen und Der Atomstaat; die taz hing immer als Wandzeitung da. Der besetzte Platz war mein autodidaktisches linksökologisches Bildungsprogramm sozusagen. Ich war jedenfalls entschlossen, der alternativen Gesellschaft beizutreten.
Das Schreiben war seinerzeit so wirklich gewesen, auch wenn ich es niemandem zeigte; als Tätigkeit, bei der es darum ging, gleichzeitig im Augenblick zu landen und ihn zu gestalten. Es gab Anfang der 80er eine regelrechte Subkultur von Teenagern, die ständig in ihre kleinen Notizbücher schrieben.
Die Bilder waren in der B.Z. und gehörten, glaube ich, zu einem Bericht über die Krawalle in Kreuzberg am 1. Mai 1989. Ich hatte es lustig gefunden, dass der Typ zwischen Momper und Pätzold so aussieht wie mein alter Freund M., der zu jener Zeit noch in irgendwelchen »linken Zusammenhängen« in Gießen tätig war.
A., der RAF-Experte, und M. gehören sozusagen onkelmäßig zu meiner Familie. Der eine kommt aus gutem Hause, ist ein bisschen kontroll- und arbeitssüchtig, eine Stütze der Gesellschaft mit Eigentumswohnung, Familie und gut bezahlter Arbeit; die Eltern des anderen waren DDR-Flüchtlinge. Als ich ihn Anfang der 90er kennenlernte, war er schon dem Ideal des glücklichen Nichtstuns gefolgt und hatte außerdem davon geträumt, der beste Liebhaber Berlins zu werden.
Im letzten Winter wäre er fast gestorben und lebt nun seit einem Monat als alkoholkranker, armer Rentner mit diabetischen Füßen im ersten Stock eines dieser Hochhäuser in der Nähe des Kottbusser Tors und braucht stundenlang, um die Straße zu überqueren mit seinem Rollator. Es ist allerdings beeindruckend, wie er sich da so mit grimmig entschlossenem Gesicht über die Straße kämpft.
Jedenfalls waren sie in der gleichen Zeit, Anfang der 1970er-Jahre, »politisiert« worden und das war alles ganz wichtig. Eine Weile werden sie ungefähr dieselben Bücher, Zeitschriften und Platten gekannt haben und da ich sozusagen über meine große Schwester »politisiert« worden bin und als Teenager großer Fan der 1960er-Jahre war, waren mir diese ganzen Sachen auch bekannt und man hatte sich immer viel zu erzählen.
Mit M. kann man relaxter rumhängen, A. ist dazu leider zu ehrgeizig, aber immer gut informiert über die Welt. Über die meisten Dinge haben wir komplett unterschiedliche Ansichten; dem einen werfe ich vor, so etabliert zu sein und immer tätig sein zu müssen; dem anderen nehme ich das Trinken übel, vor allem auch weil ich ihn doch als Haschraucher und guten Flipper- und Tischtennisspieler kennengelernt habe.
Aber beide sind treue Freunde und gehören, wie gesagt, zur Familie und wenn man sich jetzt sieht, vermeidet man strittige Themen, weil das führt ja auch zu nichts.