Dienstag, 30.1.18
Ein grauer Tag. Viele sind gekommen. G. war eine bekannte Persönlichkeit. Ihr Vater war Stadtältester gewesen. Ich fühle mich wie ein Neffe sozusagen. G.s Stimme ist noch in meinem Ohr. Mir kommt es passend vor, dass ich leidend bin. Alle Generationen sind bei der Beerdigung vertreten. M. kommt langsam mit seinem Rollator, kurz bevor die Totenfeier beginnt. Die Pastorin, G.s Schwägerin, begrüßt M. Die Leute machen Platz, er geht in die Kapelle.
Ich stehe zwischen drinnen und draußen und höre die Totenfeier nur in Teilen. Die Pastorin sagt über G., sie sei eine Powerfrau gewesen. Sie hatte ganz früh als Grundschullehrerin angefangen, zwei Kinder großgezogen. Sie hatte so gerne auch auf der Bühne gestanden, mit dem Kabarett Herzschmerz als Blondes Gift oder Unschuld vom Lande.
M. hatte mir seine neue Freundin beim Flippern vorgestellt; 2001 oder so, in der Kahuna Lounge. Ohne G. wäre er schon lange tot, hatten wir gedacht. Fast zwanzig Jahre waren sie zusammen gewesen.
Die Freunde vom Kabarett Herzschmerz singen ein altberliner Lied. N., der Flipperkönig, kommt mir vor wie ein verlorener kleiner Junge auf dem Begräbnis seiner Lieblingstante. Ein paar Meter vom Grab entfernt steht ein Tisch mit Sekt. Das hätte G. gefallen.
Es ist gut neben C. und S. zu gehen. Es ist meine erste Beerdigung auf dem Friedhof an der Zossener Straße. Eine Weile hatte ich M. aus dem Blick verloren. Ich sehe ihn, nachdem ich am Grab gestanden hatte, im Gespräch mit Verwandten. Ich würde jetzt gern Gras rauchen, und er vermittelt mich an F., und F. sagt, er könne hier keinen Joint rauchen, weil er seiner Frau, die in der Nähe steht, versprochen hatte, keinen Tabak zu rauchen.
Wir fahrten mit dem Taxi ins Maison Blanche. M. erklärt dem Taxifahrer seine Neuropathie, dann sitzen wir im Lokal.
S. sagt, sie hätte G. vor allem als verletzlich wahrgenommen. Als sie sich zum ersten Mal gesehen hatten, hätte sie sich sofort in sie verliebt, und ich denke, sie war ja auch schüchtern, wie toughe Frauen ja auch manchmal schüchtern wirken.
Zum Kartenspielen hatte ich nie Lust gehabt; eine Weile sprechen wir über die Geschichte der Apothekenrundschau – S. war lange Apothekerin –, das Essen tut gut. Mit dem gleichen Tempo, in dem er früher Bier getrunken hatte, trinkt M. nun Cappuccino und isst Kuchen und erklärt mir die Geschichte des Lokals, in dem er oft mit G. gesessen hatte.
Irgendwann geh ich raus zum Rauchen und freue mich, dass F. auch da steht; nun rauchen wir den vorhin schon angedachten Grasjoint. Er fragt, was das Leben so macht; ich überlege eine Weile und bin dann erleichtert, dass andere dazukommen und mir die Antwort ersparen.
Es ist schön, hier draußen zusammen zu rauchen. Ich fühle mich leicht und zugleich ein bisschen irritiert und denke an die Hippiefreunde aus meiner Teenagerzeit.
Der Abschied geht zu Ende. G.s Bruder bedankt sich bei den Gästen, und die Pastorin sagt, dass die Toten in einem weiter leben … und dass man selbst inzwischen nun schon wie ein belebtes Haus sei, weil so viele tot sind, die man gekannt hatte. Ich hatte erst besetztes Haus verstanden.
Später sagt er, er hätte die Beerdigung wie einen Traum erlebt, und mir war es vielleicht auch ein bisschen ähnlich ergangen.
Freitag, 2.2.18
Andrea Hanna Hünniger.
H. hatte gleich reagiert, als ich auf Facebook nach einem Laptop für M. gefragt hatte. Sie hätte noch ein Airbook, das eigentlich neu ist, nur das Display sei kaputt.
Als zweiter hatte C. reagiert. Er war, glaube ich, mal Chefredakteur von Spex und hatte mich vor zehn Jahren interviewt. Sein Kumpel Alex hätte da noch so ein Teil.
H. hatte ich jedenfalls in Frankfurt auf der Buchmesse 2011 kennengelernt. Sie war da mit A. als dynamisches Duo herumgelaufen, und ich war dazugestoßen, und wir waren betrunken gewesen. Und am nächsten Tag hatte sie selber aus ihrem Buch über ihre Jugend nach der Mauer gelesen. Ich hatte es toll gefunden, dass sie als Teenager, in der Zeit der Gesetzeslücke, magic mushrooms verkauft hatte.
Wir hatten uns jedenfalls gut verstanden und einander ein paar Jahre nicht mehr gesehen. Und es machte Spaß, sie zu besuchen.
Nur von Weitem schien die neue Fassade – ein rötliches Lila – einem Neubau für fiese Kreative zu entsprechen. Das Haus tut eher so als ob und ist ansonsten ganz normal.
Wir unterhalten uns und trinken Kaffee; ich habe meine alte Bohrmaschine mitgebracht und helfe ihr, das große Bild mit ihrer Verlobten aufzuhängen. Sie gibt mir Hühnersuppe und den Laptop und läuft zwischendurch hin und her.
Samstag, 3.2.18
Wir sitzen am Tisch am Fenster und spielen Schach. Alle paar Minuten bietet er mir etwas an: eine Süßigkeit, Gurken, Käse, Kaffee und Gebäck, vom türkischen Bäcker am U-Bahnhof-Prinzenstraße. Es ist alles so opamäßig. Es hätte nur noch gefehlt, dass er mir zum Abschied einen Fünf-Euro-Schein in die Hand gedrückt hätte.
Weil er eigentlich so wirkt wie immer, vergesse ich manchmal, dass G. erst eben gestorben ist, dass er die letzten anderthalb Jahre so oft im Krankenhaus war, dass er erst seit ein paar Wochen nicht mehr trinkt.
Was uns verbindet; seine Eltern haben einen ähnlichen Hintergrund, Kleinbürgertum, wie er gesagt hatte, die Mutter war auch geflohen, der Vater sollte mit sechzehn noch in den Krieg. Deshalb nehme ich ihn automatisch wie einen Verwandten wahr. Und das Projekt, sich so konsequent allem zu verweigern, war mir eigentlich immer sympathisch gewesen.
Kleine Fortschritte: Das Fernsehen hatte nur deshalb nicht funktioniert, weil er einen Stecker falsch eingesteckt hatte.
Sonntag, 4.2.18
Und wie meine beste Freundin vor zwei Wochen wie immer unangekündgt am Abend vorbeigekommen war. Und wie wir am Tisch saßen und uns erzählten, was los ist. Ich erzählte von meiner Mutter, von M. und G. und von A., einem Technofreund aus den 90ern, der vor kurzem gestorben war. In etwa mein Jahrgang.
Sie sagte, in den letzten Monaten – als sie in Mexiko gewesen war – wäre es bei ihr auch ständig um Tod gegangen; der Opa, der Patriarch liegt im Sterben. Keine Körperstelle eigentlich ohne Krebs. Das Pflegeheim zu teuer. Er darf nicht mehr alleine schlafen. Die Verwandten fahren oft zwei Stunden, um auf den durchgehend schlecht gelaunten Opa aufzupassen. Der wird bestimmt hundert. Als er achtzig geworden war, hatte ich ihr eine Hitler-Briefmarke für ihn mitgegeben.
Ich erzählte ihr von David Cassidy und spiele ihr ein paar Lieder vor und freue mich, dass es ihr gefällt. Irgendwann sagt sie unvermittelt, sie sei keine Feministin mehr. Ich vergesse zu fragen, warum. Und dann ist sie auch schon wieder weg.
Donnerstag, 8.2.18
Meine Mutter hatte gelächelt, als ich bei ihr saß. Sie hatte im Bett gelegen und ich hatte ihr aus Mio, mein Mio von Astrid Lindgren vorgelesen. Ich war wohl sechs, konnte jedenfalls noch nicht lesen, als sie mir zum ersten Mal aus dem Buch vorgelesen hatte, im Sommer, gleich bei der Garage. Ich hatte das Buch geliebt. Wir beide konnten uns gut mit den neunjährigen Helden des Buchs identifizieren. In den Erzählungen meiner Mutter über ihre Vertreibung, in diesen zwei Wochen, als sie von ihren Eltern getrennt war, war auch eine gleichaltrige Freundin dabei gewesen.
Ich hatte mir das Buch nach dem letzten Besuch besorgt; ich hatte es seit meiner Kindheit nicht mehr in der Hand gehabt. Wir schauten auf die Zeichnungen von Ilon Wikland. Die hellen Wichtelmäntel, die die beiden Jungen tragen, sehen aus wie Nachthemden.
Dann hatte ich kurz gezögert, ob ich weiterlesen sollte, aber sie hatte auch gelächelt bei den Passagen, in denen es um die geraubten Kinder geht, um den grausamen Ritter Kato, sie lächelte genau so, wie sie als junge Mutter gelächelt hatte, als sie mir vorgelesen hatte. Im Land der Ferne.
Ritter Kato ist Hitler, im Märchenkleid.
Mio und Jum-Jum, die neunjährigen Helden, sind Flüchtlingskinder.
Donnerstag, 15.2.18
Beim Aufstehen trete ich auf meine Brille, trinke Kaffee und geh dann zu Fielmann. Fahrradfahren geht nicht mehr. Ich will da jetzt nicht ins Detail gehen. Ich kämpfe mich durch den Tag. Was sich psychisch natürlich besser anfühlt, als wenn man z. B. verzweifelt, depressiv oder angstgestört ist, aber körpertechnisch eher nicht. Und das geht nun auch schon so lange. Bislang hatte ich mich – trotzig, wie meine Mutter – geweigert, das Rauchen ganz sein zu lassen, und nur reduziert.
Grund zu klagen hab ich andererseits nicht; die taz (bei der ich einen Pauschalistenvertrag von 1993 habe), verhält sich total solidarisch, obwohl ich viel zu wenig veröffentliche, der Blog hilft natürlich auch, und die vom Jobcenter waren prima. Und ich hätte natürlich eine Verlängerung bekommen, einerseits aus Faulheit, andererseits aber auch vielleicht, um dem Ganzen damit eine größere Dringlichkeit für alle Beteiligten zu geben, keinen Nachfolgeantrag auf Existenzsicherung gestellt. Ich bin auch neugierig, wie es wäre, wieder halbwegs fit zu sein, wieder Fußball zu spielen, wieder planen zu können, aber auch egal.
EGAL.
Absurderweise hatte ich mir beim Kauf meiner ersten Brille, vor sechs Jahren, eine Brillenversicherung aufschwatzen lassen. Meine einzige private Versicherung kommt nun also tatsächlich zum Einsatz.
Leider gibt es das felix-magath-mäßige Brillengestell nicht mehr. Und die neue Brille wird erst in einer Woche fertig sein. Die Optiker sind wie immer sehr nett, es ist interessant. Das Wetter ist gut. Mir geht es schlecht, deshalb ist es wichtig, wenigstens kleine Sachen zu erledigen.
Das war doch gut.
Ich gehe zu M.; bringe den Computer nicht zum Laufen, oder der interne Reparaturprozess dauert mir zu lange. Wir sind beide schlecht gelaunt. Er ist total genervt, weil er nicht versteht, was ich mache; ich arbeite eher intuitiv und weiß es auch nicht, und dann geh ich nach Hause.
Es gibt nämlich noch eine Deadline.
Mit zusammengebissenen Zähnen (und vorwitzigen Darmschlingenbewegungen (meine neueste Idee, bzw. die meines Arztes)) arbeite ich an einem Text über diese pinku-eiga-Filmreihe im Forum; zumindest einen der Filme, den ich gestern noch im Bett gesehen hatte, hatte ich klasse gefunden, und mich gefreut, dass George Bataille einmal zitiert wird. Als ich zur Uni ging, war George Bataille mein Lieblingstheoretiker gewesen.
Ich kannte alle Bücher, die auf Deutsch vorlagen, und die dreibändige Biografie von Bernd Mattheus und hatte manchmal in der französischen Gesamtausgabe gelesen, die im Keller des Instituts für AVL, noch am Hüttenweg, gelagert hatte.
Und als ich Gushing Prayer (1971) von Masao Adachi gestern Nacht noch im Bett gesehen hatte, kam es mir auch so déjà-vu-mäßig vor, als hätte ich den Film schon einmal Anfang der 90er gesehen und vielleicht sogar darüber geschrieben. Was vermutlich auch der Fall gewesen war.
Meine Eingeweide beschäftigen mich zu sehr, ich kann mich nicht konzentrieren. Stehen hilft auch nicht. Ich geh raus, mein Redakteur ruft an, ich entschuldige mich und sage die Berlinale ab. Dann geh ich tapfer noch einmal in meine Wohnung und bringe den eingeplanten Text irgendwie noch zu Ende.
Und gehe noch mal kurz zu M. und bringe den Laptop wieder zum Laufen, juchhu, den ich aus der taz für ihn geliehen hatte. Und insofern war der Tag dann ja doch noch ein gewisser Erfolg gewesen.
Samstag, 17.2.18
Wir haben damit begonnen, uns Gewohnheiten anzuschaffen. Ich sage, ich würde am nächsten Dienstag kommen. Sie fragt, wie immer?. Ich antworte wie immer.
Ich besuche ihn jeden Samstagnachmittag. Im Hintergrund läuft Radio, radioeins Bundesliga. Er fragt, ob er lieber Inforadio anmachen soll. Ich sage, Nein, ist schon okay, und beginne unvermittelt zu erzählen, dass ich Deutschlandfunk und radioeins grad nicht mehr ertragen kann. Deutschlandfunk kommt mir so depressiv vor, und die ModeratorInnen bei radioeins wirken so saturiert und von sich eingenommen, gerade in der Zeit, in der ich Radio höre. Man hört ihren Stimmen an, dass sie gut verdienen und sich prima finden und davon ausgehen, dass auch die HörerInnen sie prima finden. Am schlimmsten ist es dann, wenn AnruferInnen die gleiche Ausstrahlung haben.
Der Tisch steht am Fenster in der Küche. Auf dem Tisch stehen: viele unterschiedliche Medikamente, eine gelbe Packung Butterkekse von deBeukelaer, zwei Becher mit Kaffee. Der Blick Richtung Osten.
Ich stelle das Schachbrett auf den Tisch, halte ihm meine geschlossenen Hände entgegen, er deutet auf meine rechte Faust, in der ein weißer Bauer ist.
Ich hatte nur wahllos in das Kästchen mit den Figuren gegriffen und wusste nicht, was in meiner Hand gewesen war. Eigentlich war es mir auch egal.
Er spielt nicht so gerne mit Weiß, weil er lieber reagiert, genau wie ich.
Er spielt eine Läufereröffnung, ich antworte die ersten paar Züge spiegelsymmetrisch.
Manchmal stellt er sich vor, aus dem Fenster zu springen, und ich beschimpfe ihn, weil das asozial ist und eine Frechheit und das hätte er sich halt zuvor überlegen müssen. Und außerdem würde er dann als Wurm wiedergeboren werden und könnte die Merkzettel nicht lesen, die er sich fürs nächste Leben – wie ich – schreiben sollte.
Komischerweise fände er es gar nicht so abwegig, in die Kirche zu gehen. Mit dreizehn oder vierzehn, sagt er, wäre er jede Woche mit der Mutter zur Kirche gegangen.
Am Abend zum Alex; ich fahre im Stehen. Christoph und Alex haben Essen gemacht und verschenken es seit ein paar Stunden auf dem Alex. Gleich beim Kino. Alex war vor zwei drei Jahren damit berühmt geworden; er wollte den Deutschen etwas zurückgeben und verschenkte deshalb Essen an Obdachlose. Er hat eine freundliche, warme Ausstrahlung.
Eine junge Frau steht auch dabei; sie schenkt mir Taschentücher, und Alex gibt mir einen Laptop für M., der taz-Laptop ist ja geliehen und muss wieder zurück.
Zumindest das ist erstmal erledigt.
Mittwoch, 21.2.18
Termin beim Urologen. Es sei nichts zu beanstanden. Er empfiehlt, noch mal in die Darmforschung zu gehen. Haben Sie schon mal an die Neurologie gedacht? Er ist nett. Die Sonne scheint. Erst eine Stunde später realisiere ich, dass der Termin eigentlich ein Desaster gewesen war.
K. ruft an. Mutti ist noch im Krankenhaus. Der Fuß sei fast schwarz. Sie hätte sich mit O. abgewechselt im Krankenhaus, um ihr zu trinken zu geben, weil allein trinkt sie ja nicht und isst auch nicht. Nur wenn man ihr gibt und darauf besteht und ein bisschen Zeit hat. Sie sei zu schwach, um operiert zu werden.
K. war selber dann letzte Woche in der Notaufnahme wegen Herzflimmern. Einen Tag beobachtet, dann entlassen, weil sie noch jung und fit sei, wie der Arzt sagte. Der Rollenwechsel wäre komisch gewesen.
Freitag, 2. März 2018
Ein paar Sachen klappen super. Ich schicke H. eine erzählende Mail, dass M. ihren Laptop nicht gebrauchen kann und ich ihm den von A. gegeben habe und frage, ob ich ihn haben kann. Sie schenkt mir das Airbook. »Wir Armen müssen zusamenhalten«.
Das e auf meinem Laptop hält nun gar nicht mehr, es bleibt dauernd an meinem Finger kleben. Ich hole ein Ersatz-e aus der taz-edv, das zumindest teilweise hält, und bestelle eins im Internet. Meine Mutter ist wieder im Krankenhaus. K. hatte ihr gesagt, dass morgen O. und übermorgen D. vorbeikommen wird, und sie hatte geantwortet das ist ja enorm!