Vielleicht später ist sozusagen ein defensives Mañana. Ein thematisch offenes Blog in der Jetztzeit mit Fotos, ein Versuch, in der Gegenwart zu schreiben. Die Gegenwart ist Berlin. Die Wege und Wände meist die gleichen wie in Umsonst & draußen. Vieles ist anders. Leute kommen vorbei. Die Fußball-WM, die wie Weihnachten oder Geburtstag immer zu früh kommt. An den Wänden gibt es Zeichen. Oder auf dem Boden. Wie in jedem Tagebuch geht es darum, sich selbst und die Welt im Blick des Anderen zu ordnen. In der Gegenwart. »Kommst du?« – »Vielleicht später«.
Vor ein paar Wochen (an dem Abend, an dem er mich angerufen hatte?) war der Freund draußen verlorengegangen. Dann hatte man ihn irgendwo gefunden. Ich stellte mir vor, es wäre in der Nähe des Goldenen Hahn gewesen. Weil er ein paar Stunden draußen gelegen hatte, hatte er eine Lungenentzündung gekriegt. Ein paar Wochen später war er vor dem Heim hingefallen, ganz schön betrunken, nachdem er bei K. gewesen war, wie B. erzählte, und dass fünf Leute nötig gewesen waren, ihn wieder nach oben zu bringen.
Und bei der folgenden Untersuchung hatte man dann eben noch die bislang unbemerkten drei Rippenbrüche entdeckt.
Und nun lag er wieder hier mit Schläuchen in der Nase allein in einem Zweibettzimmer mit Blick Richtung Westen; das Postbankhaus weiter hinten. Nachmittagssonne. Das Wetter war so ähnlich wie zu Weihnachten.
Ich fragte, wo’s ihm besser gefalle. Im Krankenhaus oder im Pflegeheim. Er sagte, im Krankenhaus, und erzählte noch einmal, weshalb er es im Heim nicht mehr aushalten könne, weshalb alles so unerträglich sei.
Es beginnt ja schon am Morgen, wenn die Angestellten mit den Wagen durch die Gänge fahren, ab und an gegen Türen oder die Wand stoßen; das Geschirrgeklapper und die Stimmen. Wie sein Zimmernachbar A. geweckt wird und jedes Mal die ihn Weckenden mit einem »halt’s Maul« beleidigt, wie sich das wiederholt, bis der Mitbewohner dann im Badezimmer ist.
Und das immer gleiche Essen, es ist gut, sie geben sich ja Mühe, aber es ist eben doch das immer gleiche Essen. Es sei wie im Gefängnis. Es gebe kaum jemanden, mit dem er reden könne. Er langweilt sich entsetzlich, auch wenn seine Freundin fast jeden Tag zu Besuch kommt, schlafe schlecht, will nur raus.
Aber davor hast du doch auch schlecht geschlafen.
Aber ich hatte ein eigenes Zimmer; ich konnte die Tür hinter mir zu machen.
Aber die Wohnung in der X-Straße ist doch schon bald frei, vielleicht schon in sechs Wochen.
So lange halte ich es nicht mehr aus.
Ich habe ein schlechtes Gewissen, dass ich ihn so selten besuche, aber auch nicht wirklich.
Am Abend rief K. an. Sie sagte, dies Jahr ist genau so wie 2006. Zum ersten Mal seit elf Jahren wiederholt sich der Kalender. Auch 2006 war Ostersonntag am 16. April. Zwei Tage später hatte sich mein Vater das Leben genommen.
Später guckte ich in den Kalender, ob es noch weitere Datumsauffälligkeiten gibt: 1961 wurde ich an einem Freitag geboren; 2006 hatte ich wieder an einem Freitag Geburtstag. 2028, in dem Jahr, in dem mein Vater 100 geworden wäre, wird Ostern wieder am 16. April sein. Und dann erst wieder 2090.
Aber vor elf Jahren war es nach Ostern sehr warm gewesen.
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