Vielleicht später ist sozusagen ein defensives Mañana. Ein thematisch offenes Blog in der Jetztzeit mit Fotos, ein Versuch, in der Gegenwart zu schreiben. Die Gegenwart ist Berlin. Die Wege und Wände meist die gleichen wie in Umsonst & draußen. Vieles ist anders. Leute kommen vorbei. Die Fußball-WM, die wie Weihnachten oder Geburtstag immer zu früh kommt. An den Wänden gibt es Zeichen. Oder auf dem Boden. Wie in jedem Tagebuch geht es darum, sich selbst und die Welt im Blick des Anderen zu ordnen. In der Gegenwart. »Kommst du?« – »Vielleicht später«.
Eigentlich hatte ich schon vor ein paar Monaten zum Jobcenter gehen wollen, um ALG2 zu beantragen, es aber immer wieder verschoben, weil was dazwischengekommen war, aus Stolz, mein ganzes Leben bislang ohne staatliche Hilfen ausgekommen zu sein, aus Schüchternheit vor dem Unbekannten und der Angewohnheit, zu erledigende Sachen zu verschieben.
Ich hatte lange gezögert, aus Faulheit, Snobismus und Angst vor Formularen; vielleicht auch, weil ich dachte, als Aufstocker meine Streetcredibility zu verspielen, obgleich es eigentlich ja vielleicht auch umgekehrt war. Außerdem ging es auch nicht mehr anders. Es war Ende des Monats. Das Konto war bis zum Anschlag überzogen. Mein Durchschnittseinkommen lag mittlerweile bei sechshundert Euro. In der Tasche hatte ich noch 15 Euro. Das Geld, dass ich in drei Wochen bekommen würde, würde nicht einmal für Miete und Krankenkasse reichen.
So ging ich zum ersten Mal zum Jobcenter. Zum ersten Mal? – Nein, doch nicht. Das erste Mal war ich 1991 mit einigen DDR-Dokumentarfilmern beim Arbeitsamt gewesen, die zu DDR-Zeiten noch eine Festanstellung gehabt bzw. zu erwarten gehabt hatten und bei ihrem Arbeitsamtsbesuch von einigen Journalisten begleitet worden waren. Und es war wohl irgendwie zu zeigen gewesen, Kapitalismus bedeutet Arbeitsamt (wobei die Arbeitslosenquote 1991 kaum höher gewesen war als jetzt).
Es ist halb drei. Dass das Jobcenter in der Rudi-Dutschke-Straße liegt, gegenüber vom Springer-Hochhaus, ist witzig, bzw. ungewohnt. Der Mann in der Eingangswartehalle sieht sehr nett aus. Er trägt einen blauen Anzug und hat ein schönes Gesicht. Lächelnd erklärt er, dass es jetzt schon zu spät sei und ich morgen wiederkommen solle.
Auf dem Rückweg denke ich an M. Wie aufgeregt er gewesen war; vor 20 Jahren oder so, als er seinen Termin beim Jobcenter gehabt hatte. Er war den Weg extra am Tag zuvor gegangen, um sich vor der ersten Begegnung, bei der er voraussichtlich denk- und entscheidungsunfähig sein würde, nicht zu verlaufen.
Er kiffte in der Zeit eigentlich ununterbrochen, war aber trotzdem nicht glücklich, und nun lebt er im Pflegeheim, weil er nach seiner Haschphase auf Alkohol umgestiegen war, hat aber schon ein betreutes Wohnen in guter Lage in Aussicht.
In der Nacht kaum geschlafen, das Dösen am Morgen ist himmlisch, kurz überlegt, ob man heute tatsächlich zum Jobcenter sollte, und Selbstgespräche:
Eigentlich könnte man doch auch morgen hin.
Nein, morgen ist Samstag.
Ist morgen wirklich Samstag?
Ja!
Dann ist alles ganz nett. Die Sonne scheint. Ich bin tatsächlich um halb neun da. Ich funktioniere ganz normal für ein paar Stunden. Es geht recht zügig. Die Sachbearbeiterin ist sympathisch. Nach einer Stunde bin ich mit zwei Terminen wieder draußen. Die Sonne scheint.