Vielleicht später ist sozusagen ein defensives Mañana. Ein thematisch offenes Blog in der Jetztzeit mit Fotos, ein Versuch, in der Gegenwart zu schreiben. Die Gegenwart ist Berlin. Die Wege und Wände meist die gleichen wie in Umsonst & draußen. Vieles ist anders. Leute kommen vorbei. Die Fussball-WM, die wie Weihnachten oder Geburtstag immer zu früh kommt. An den Wänden gibt es Zeichen. Oder auf dem Boden. Wie in jedem Tagebuch geht es darum, sich selbst und die Welt im Blick des Anderen zu ordnen. In der Gegenwart. »Kommst du?« – »Vielleicht später«.
Seit zwei Wochen stehen die beiden Stühle draußen vor der Tür unter der Kastanie. An heißen Nachmittagen sitzen hier manchmal Leute und ruhen sich aus. Plötzlich ist man doch im Sommer angekommen.
Insgesamt hielt sich die Beflaggung in meiner Kreuzberger Gegend in Grenzen. Wo zuvor eine Fahne gehangen hatte, hingen nun zwei. Nur bei Getränke Hoffmann übertrieb man es ein bisschen. Und auch bei Kaiser’s.
Argentinien – Deutschland. Zossener Straße.
Ich war noch erschöpft vom Schreiben am Vormittag. Das Fahrrad hatte immer noch einen Platten. Am nächsten Morgen musste ich fit sein, weil ich noch etwas über die Crystal-Meth-Geschichte des Mainzer SPD-Politikers schreiben sollte. Es war mir wichtig, aber ich hatte keinen richtigen Plan. »Der Fall bestätigt, dass Drogen in allen Gesellschaftsbereichen genommen werden. Dass Leute nicht nur Kokain nehmen, um sich zu dopen, und dass sie dies nicht tun, um sich ›wegzubeamen‹ wie der über fünfzigjährige Held in Joachim Lottmanns neuem Roman Endlich Kokain, ist ja seit den 90ern bekannt. Lustig, dass Hartmann, der sich vehement und ausgesprochen klischeehaft gegen die Marihuana-Legalisierungspläne von Grünen und Linken ausgesprochen hatte, der offiziellen Drogenaufklärung kein Stück glaubt – es gibt ja keine Droge, vor der so sehr gewarnt wird wie vor Crystal Meth. Man stellt sich vor, Hartmann sei von einem Politikerfreund verführt worden, der ihm freudestrahlend erzählte, wie gut er arbeiten könne, seitdem er diese Droge entdeckt hat. Die tolle Serie Breaking Bad und die vielen warnenden Berichte hatten ihn sicher auch neugierig gemacht. Ich dope mich beim Schreiben mit Zigaretten und Kaffee; das ist alles ein bisschen ruinös …«
So richtig ergab das noch keinen guten Text. Gleich begann das Endspiel; ich schaltete den Fernseher an.
Alle Fenster waren offen. Draußen war es stiller als sonst. Ein Festtag wie Weihnachten im Sommer. Ich unterhielt mich auf Facebook mit den drei, vier Bekannten, die – wie ich – wohl allein zu Haus guckten. Zum ersten Mal bei dieser WM wurde Höwedes (mein Lieblingsspieler) zärtlich »Bennie« genannt. Das Spiel zog mich in seinen Bann. Nicht in der Weise, dass ich nur noch das Spiel sah, sondern eher so, dass das Spiel die Aufmerksamkeit für alles verstärkte.
Dann Verlängerung: Aufgeregt rannte ich nach draußen. Alles so still und superangenehm. Ich schlich um die Heilig-Kreuz-Kirche herum; sollte ich mir tatsächlich den Rest des Finales in einer evangelischen Kirche anschauen?
Ich stand am Rande und verfolgte das Spiel. Da hinten hingen Luftballons in schwarz, rot und gelb. Alle guckten konzentriert; ich fühlte mich wohl. Als Teenager war ich eine Weile, während des Konfirmationsunterrichts, jede Woche in die Marienkirche in Bad Segeberg gegangen. Nicht weil ich so super gläubig gewesen wäre, sondern weil ich mich für Religion interessierte und es angenehm war, dort einfach nur am Sonntagmorgen zu sitzen und zu gucken. In der Zeit hatte ich noch Fußball im Verein gespielt. Ich hatte ganz vergessen, dass mir Kirchen vertraut sind. Und dass ich mit meiner Mutter in dieser Zeit oft in die Kirche gegangen bin.
Gerade, wenn man in einer kleinen Wohnung wohnt, ist es schön, in einer Kirche herumzustehen.
Das Spiel war immer noch super.
Ich notierte:
»Seitdem Umut’s Spätshop nicht mehr da ist, ist die Kirche mein ›Späti‹; ein öffentlicher Ort in der Nachbarschaft, wo man als Nachbar unter Nachbarn sozusagen …« Dann war Halbzeit, immer noch aufgeregt von dem Spiel und verwirrt davon, dass es mir gefiel, in einer Kirche Fußball zu gucken, ging ich wieder raus, wollte rauchen, hatte meine Zigaretten vergessen und guckte den Rest des Spiels dann wieder zu Hause mit meinen Internetbekannten.
Mann des Spiels: Benedikt Höwedes. Im brasilianischen Fernsehen wurde der Schalker Verteidiger spöttisch »Höwetz« genannt, was, wie ein Freund sagte, in etwa »Vollpfosten« bedeute. Im Internet finde ich »Höwetz« aber nur auf irgendeiner BILD-Seite, die ich nicht öffnen will, weil man sich dazu irgendeine App herunterladen muss. Wenn ich mein Internet jetzt richtig verstehe, wurde der Juli in der schweizerischen Sprache des 18. Jahrhunderts ebenfalls »Höwetz« genannt, seh ich grade. Seine Fans nennen den großen Kämpfer übrigens »Löwedes«. Es gibt viele Parallelen zwischen Höwedes und mir. Wir sind beide Anhänger desselben Vereins. Wie Höwedes musste ich oft links hinten spielen, obgleich mein linker Fuß nicht viel taugt; anders als Höwedes hatte ich es mir aber ausgesucht, links hinten zu spielen, weil ich das irgendwie schicker fand, obgleich ich auf einer anderen Position vielleicht effektiver gewesen wäre.