Vielleicht später ist sozusagen ein defensives Mañana. Ein thematisch offenes Blog in der Jetztzeit mit Fotos, ein Versuch, in der Gegenwart zu schreiben. Die Gegenwart ist Berlin. Die Wege und Wände meist die gleichen wie in Umsonst & draußen. Vieles ist anders. Leute kommen vorbei. Die Fussball-WM, die wie Weihnachten oder Geburtstag immer zu früh kommt. An den Wänden gibt es Zeichen. Oder auf dem Boden. Wie in jedem Tagebuch geht es darum, sich selbst und die Welt im Blick des Anderen zu ordnen. In der Gegenwart. »Kommst du?« – »Vielleicht später«.
Komisch, wie man früher so rumlief.
Die Neuverfilmung des Tagebuchs einer Kammerzofe von Benoit Jacquot, ein gepflegter französischer Film sozusagen. Man nahm nicht wirklich daran teil, es machte aber Spaß, im Berlinale-Palast zu sitzen. Ich freute mich, dass ich doch noch ein bisschen Französisch konnte.
Abspann ist immer gut. Ich fühlte mich zu Hause und aufgehoben im Kino.
Potsdamer Platz am Abend.
Ai Weiwei war auch dabei, von Ferne.
Neben dem Delphi-Kinopalast. Das 29. Forum des Internationalen Jungen Films war 1999.
Das dreißigste Forum.
Ototo von Kon Ichikawa. Am allerliebsten sind mir japanische Filme. Deutsche gucke ich nicht so gerne, weil ich ja selber hier lebe. Und dass ich den und nicht andere Filme erwähne, ist eher zufällig.
Noch mal Ai Weiwei.
Androids Dream von Ion de Sosa, ein typischer Forum-Kunstfilm sozusagen, in den ich auch wegen des Titels gegangen war, bei dem sich bei mir Strugatzki, Vitalij Babenko, russische Science-fiction-Autoren assoziierten, auch wenn es sich um um eine freie Adaption von Philip K. Dicks Träumen Androiden von elektrischen Schafen handelte.
Hätte ich den Film besprechen sollen, hätte mich das vielleicht genervt; ich hätte keine Lust gehabt, einen ganzen Artikel über diesen Film zu schreiben. So hatte mir die unspektakuläre, tendenziell fast langweilige Hommage an den Film noir aber gefallen; die assoziierende Narration hatte mir wohlgetan, weil ich grade etwas nervös war. Der Film hat sich eine Rauheit bewahrt und kippt nie in’s Prätentiöse. Das 4:3 Format ist auch so schön und dass die Bilder nicht Super-HD sind. Der Film war jedenfalls wie eine unaufdringlich wohltuende Medizin.
Das Fachpublikum (ich schaute eine Pressevorstellung) war gespalten: Viele verließen das Kino schon nach einigen Minuten; die, die blieben, blieben aber fast alle bis zum Ende des Abspanns.
Am Nachmittag gucke ich im Delphi K von Emyr ap Richard und Darhad Erdenibulag. Die chinesische Produktion ist auf mongolisch. Kafkas Schloss-Roman auf mongolisch zu verfilmen, leuchtet ein. Der Film ist sehr gut. Am Ende des Filmgesprächs singt eine junge Darstellerin ein mongolisches Lied. Ihr kurzer Auftritt ist einer der bisherigen Festivalhöhepunkte.
»In Festlandchina wurde Kafka erst relativ spät, nämlich Anfang der 1980er-Jahre im Zuge des ›literarischen Frühlings‹ nach der Ära Mao entdeckt«, so der Hongkonger Literaturprofessor Leo Ou-fan Lee.
Kafka selber war fasziniert von China. »Ich denke, wenn ich ein Chinese wäre und gleich nach Hause fahren würde (im Grunde bin ich ja Chinese und fahre nachhause) müßte ich es doch bald erzwingen, wieder herzukommen«, schreibt er am 15. Mai 1916 an Felice Bauer.
Regisseur und Hauptdarsteller.
Sie singt ein mongolisches Lied.
Bob Odenkirk, der Hauptdarsteller der schönen Fernsehserie Better Call Saul.
Better Call Saul hält das Niveau der besseren Breaking-Bad-Folgen, ist aber vielleicht noch lustiger. Die zweite Staffel ist in Arbeit und Bob Odenkirk war gut gelaunt und sagte zum Beispiel: »Pray for the people on tv.«
Wehmütig geht man in letzte Filme. Cancelled Faces von Lior Shamriz passt gut und ist auch sehr international: Ein israelischer Filmemacher, der in Berlin und Los Angeles lebt, macht mit koreanischen Schauspielern einen formvollendeten Film über eine schwule Liebesgeschichte, die in Seoul spielt. Ich hatte mich vor in paar Jahren mal mit dem Regisseur im Café Kotti getroffen, und weil ich seine Filme mochte und das Treffen sehr gut gut fand, war ich natürlich auch in seinen neuen Film gegangen.
– an diesem Abend war ich eigentlich komplett fertig gewesen.
Selten sah man ein schöneres Schwarz-Weiß. Und immer kurz bevor man das Gefühl bekommen könnte, der Film sei zu arty, kommen schwarze Stummfilmtexttafeln.
Dari Marusan von Izumi Takahashi ist großartig und knüpft athmosphärisch an die vielen wunderschönen japanischen Filme an, die ich in den letzten 30 Jahren auf der Berlinale gesehen habe. Die gehörlose Dari Marusan hat mit zwei anderen Frauen eine Detektei, die darauf spezialisiert ist, verlorene Haustiere wieder zu finden. Sie ist verletzt und hat besondere Fähigkeiten, mit denen sie meist verlorenen Katzen nachspürt. Ihr Freund ist aus der Arbeitswelt gefallen und will sie erst heiraten, wenn er Geld hat. Er findet Arbeit als Vertreter für die überflüssigen Produkte einer obskuren Firma. Sein Chef bezahlt Frauen, aber auch Männer (das ist egal) dafür, dass sie sich von ihm den Arm brechen lassen. Beim Geräusch der brechenden Knochen kommt er zum Höhepunkt. Yoshikawa, ein schwer traumatisierter Außenseiter, erteilt den Frauen den Auftrag, einen Papagei wiederzufinden, den er vor zwei Jahren freigelassen hat. In der Gegend treibt ein Katzenmörder sein Unwesen. Vieles geschieht überraschend, und oft wissen die Menschen nicht, was sie tatsächlich verloren haben. Der Film hat eine wunderschöne, traurig geheimnisvolle Melodie.
Plötzlich Frühling.
Am Mehringplatz, gleich bei der Junkie-Bank.
Den Wettbewerb der Berlinale beschloss Chasuke’s Journey von Sabu. Es ist der siebte Sabu-Film, der auf der Berlinale gezeigt wird. Ich hatte mich total darauf gefreut; weil die Filme von Sabu, die zumeist im Forum-Programm liefen, eigentlich alle toll sind. Chasuke’s Journey ist zwar nicht sein bester Film, aber trotzdem super.
Die festliche Atmosphäre. Dass man erst draußen so lange warten musste und dann im Berlinale-Palast sah, wie die in Japan berühmten SchauspielerInnen über diesen komischen Teppich gingen.
Ken’ichi Matsuyama, Ito Ohno.
Ito Ohno ist total berühmt in Japan und ein Model.
Sabu, den ich zuletzt vor einigen Jahren im Arsenal-Kino sah, wo er einen Vortrag hielt.
Die Grundgeschichte ist ja die, dass im Himmel Heerscharen von Schreibern sind, die die Drehbücher für die Leben der Menschen schreiben. Manche dieser Autoren mögen auch Filme und denken sich turbulente Lebensläufe aus. Die Mutter einer Figur war zum Beispiel obdachlos und liebte die Männer. Sie schlief mit den anderen Obdachlosen, die vor der Krise Firmenchefs waren; der Sohn hat jedenfalls zehn Väter. Als Kind spielt er wahnsinnig gut Fußball. Die Medien werden auf ihn aufmerksam. Als herauskommt, dass er das Kind obdachloser Leute ist, wird er aus seiner Mannschaft geworfen. Seine zehn Väter geben ihm Privatunterricht. Später kommt er zur Uni. Dann schließt er sich einer Bikergang an, wird danach Boxer, seine wunderschöne Frau, eine Waise, kommt tragisch zu Tode. Und weil sie zusammen immer so gerne getöpfert hatten, behält er zur Erinnerung alle Schalen, die sie zusammen gemacht hatten, und eröffnet eine Suppenküche, in der ihm Chasuke begegnet, der im Himmel den Heerscharen der Schreibern Tee serviert.
Viele Szenen sind irrsinnig komisch. Der Mann neben mir lachte ein bisschen zu oft und zu laut. Ich dachte an thematisch ähnliche Filme, wie eXistence von Cronenberg oder Welcome Back, Mr. McDonald von Koki Mitani oder den wunderbaren Roman Officer Pembry von Giwi Margwelaschwili.
Abspann.
Am schönsten war aber, dass Sabu nur ganz kurz auf der Bühne blieb, dass er sofort die Bühne verließ, als er Erika und Ulrich Gregor sah, die in der ersten Reihe gesessen hatten.