Vielleicht später ist sozusagen ein defensives Mañana. Ein thematisch offenes Blog in der Jetztzeit mit Fotos, ein Versuch, in der Gegenwart zu schreiben. Die Gegenwart ist Berlin. Die Wege und Wände meist die gleichen wie in Umsonst & draußen. Vieles ist anders. Leute kommen vorbei. Die Fussball-WM, die wie Weihnachten oder Geburtstag immer zu früh kommt. An den Wänden gibt es Zeichen. Oder auf dem Boden. Wie in jedem Tagebuch geht es darum, sich selbst und die Welt im Blick des Anderen zu ordnen. In der Gegenwart. »Kommst du?« – »Vielleicht später«.
Die Lesung in Bad Segeberg. Eine komplizierte Geschichte. Aus unterschiedlichen Gründen, für die Bad Segeberg nichts kann, war ich in den letzten dreißig Jahren nicht oft da gewesen. Beim zehnjährigen Abi-Jubiläum war ich noch stolz mit dem Auto gekommen; den andren Abitreffen war ich fern geblieben. Vielleicht auch, weil sie immer in einer Zeit stattfanden, in der ich gerade so verschuldet war, und hätte ich ein Auto oder eine feste Freundin gehabt – ach, egal!
Ich hatte mir Zeit freigeräumt, es sollte etwas Besonderes sein, zunächst hatte ich mir auch überlegt, einen Text über Provinz und Berlin zu schreiben, es dann aber doch gelassen und mich für Texte vor allem aus Morgens leicht … entschieden, die ich schon oft vorgelesen hatte, und dass ich eigentlich das T-Shirt mit dem schönen Wahlspruch »da aufhören, wo andere weitermachen« hatte anziehen wollen, war mir erst nach der Lesung eingefallen. Dass ich den Fotoapparat vergessen hatte, hatte ich aber gleich gemerkt.
25 Leute ungefähr waren in die Buchhandlung Druckwerk gekommen. Einige kannten mich noch von früher, aus der Jugend sozusagen. Sie wussten, woher ich kam. Aber sie wussten nur sehr ungefähr, was ich in Berlin gemacht hatte oder mache. (…)
Das Ich der meisten Texte, die ich vorlas, war aus 2002 bis 2007. Nur zwei, drei Texte waren aktuell. Die alten Texte waren mir vertrauter als die Person, die sie geschrieben hatte und die ich jetzt als Vorleser noch einmal darstellte. Das Ich der alten Texte hatte sich von mir schon wieder ein bisschen entfernt.
Beim Lesen fiel mir auf, dass sich die meisten Texte noch an ein anderes Publikum gerichtet hatten; an subkulturell interessierte taz-LeserInnen meinetwegen, die über Popkultur, 68pp., Bataille, Foucault und die Postmoderne sozialisiert worden waren; an lesende Drogensüchtige, labile Leute; beim Schreiben hatte man ja immer eine Vorstellung vom Adressaten, deshalb war es mir immer schwergefallen, für Zeitungen zu schreiben, die ich selber nicht lese. Komischerweise ist mir die Berliner Zeitung mittlerweile, nach fünf Jahren, aber doch ganz vertraut geworden. Beim Wiederlesen stolperte ich über dies vergangene Ich, das beim Schreiben entsteht und im Text erscheint, nur momenthaft und nachträglich.
Die erste Hälfte war humorvoller als die zweite Hälfte, und in der zweiten Hälfte gab es vielleicht zu viel Tote, und ich hörte zu früh auf oder hatte mich zu früh für letzte Texte entschieden, und am Ende merkte ich, dass ich einen lustigen Text mit den Toten von G. und dem Hund namens Bronson vergessen hatte. (Er hatte so geheißen, weil ihr Großvater Charles Bronson verehrt hatte.)
Und den Kurzroman, den mir G. einmal am Nachmittag erzählt hatte, hätte ich vielleicht auch vorlesen sollen. Es handelte sich um die Geschichte eines Mädchens, mit dem sie in in Mexiko-Stadt zur Schule gegangen war. »Sie fuhr Fahrrad und war sehr gut. Dann wurde das Fahrrad geklaut, und sie bekam ein Kind. Und der Papa von dem Kind ist auch verschwunden. Jetzt ist er in irgendeiner Firma angestellt – eine tragische Geschichte.«
Am Ende war ich ein bisschen erledigt. Und später noch mit A. und B., zwei Mitschülerinnen, in der Haschkneipe meiner Jugend. Am gleichen Tisch, an dem ich mit 16 auf die Hippierepräsentanten eines anderen Lebens geschaut hatte. Es hatte sich nicht viel verändert; nur, wo früher der Billardtisch gestanden hatte, stand nun ein Kicker, und zwei Fernseher unterstrichen den Anspruch, auch als Fußballkneipe ernst genommen zu werden. Das Publikum war so alt wie früher, also ungefähr halb so alt wie wir.
A. erzählte von einem fiesen Lehrer, einem Sportler, der alle Faulenzer hasste und Anfang fünfzig dann aus vorgeschobenen und ausgedachten Gründen, wie B., die Ärztin, mir versicherte, sich frühpensionieren ließ und seitdem gern auf Weltreisen ist.
A. korrigierte eine Geschichte, die ich in Umsonst und draußen erwähnt hatte: der, von dem ich gemeint hatte, er sei der erste Drogentote in Segeberg gewesen, war in Wirklichkeit besoffen ertrunken. Auch andere aus der Haschkneipe meiner Jugend hatten sich schließlich zu Tode getrunken.
Ich dachte an die Helden von damals und zwei Tage später saß ich wieder in der taz-Kantine beim Essen und unterhielt mich mit einem Redakteur. Ich erzählte kurz von Bad Segeberg. Von der Lesung. Wie das alles so war, und E. sagte: »Ach, Bad Segeberg, das ist doch die Heimat von Winnetou«, und ich antworte, kurz verärgert (aber ich freute mich auch, dass sie nicht »bad« Segeberg gesagt hatte): »Ja, das ist die Winnetoustadt, aber David Bowie ist hier auch zweimal im Kalkbergstadion gewesen.«