Vielleicht später ist sozusagen ein defensives Mañana. Ein thematisch offenes Blog in der Jetztzeit mit Fotos, ein Versuch, in der Gegenwart zu schreiben. Die Gegenwart ist Berlin. Die Wege und Wände meist die gleichen wie in Umsonst & draußen. Vieles ist anders. Leute kommen vorbei. Die Fußball-WM, die wie Weihnachten oder Geburtstag immer zu früh kommt. An den Wänden gibt es Zeichen. Oder auf dem Boden. Wie in jedem Tagebuch geht es darum, sich selbst und die Welt im Blick des Anderen zu ordnen. In der Gegenwart. »Kommst du?« – »Vielleicht später«.
Ich bin noch in Schwung, weil es Anfang des Jahres ist, lüfte viel, rauche wenig (wodurch die Zigaretten dann wieder viel besser schmecken) und lese zwei Bücher. Liebe am Papierrand von Yoko Ogawa, weil ich zu Weihnachten kein Buch geschenkt bekommen hatte und ich das Buch, das K. geschenkt bekommen hatte, beim Weihnachtsbesuch nicht zu Ende hatte lesen können. Es handelt von einer Frau, die in einer Spezialklinik für Ohrenerkrankungen untergebracht ist. Sie trifft bei einem Gruppeninterview mit anderen Gehörproblematikern auf einen geheimnisvollen Stenografen. Später erzählt sie ihm ihr Leben, und er schreibt es auf. Ihre Worte fließen direkt in seine Hand, die alles aufschreibt. Ungelesen werden die beschriebenen Blätter gesammelt. Ein perfektes Buch zum schnell lesen. Als Kind hatte ich oft Mittelohrentzündung. Ich hatte im Wohnzimmer des alten Hauses gestanden, und es hatte total weh getan. An die OP kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich lese gerne, weil es mich übt. Nur der Titel ist schlecht gewählt. Es ist gar kein Liebesroman. Und danach gleich Das Geheimnis der Eulerschen Formel. Ein drittes Buch von Yoko Ogawa möchte ich auch gerne lesen. Meiner Schwester gefällt es am besten.
Aus unterschiedlichen Gründen dann Alle Farben Rot von Laksmi Pamuntjak. Eine Freundin ist aus Indonesien, im Zugabteil hatte eine Indonesierin gesessen, und ein Freund ist gerade in Indonesien Urlaub und postet ständig Fotos von indonesischen Sportplätzen, weil er so gerne Fußball spielt. Das Buch hatte neben dem Bett meiner Nichte gelegen, und als ich in der Bücherei nach indonesischen Büchern gesucht hatte, war es unter den zehn Büchern, die da standen, und ich hatte es wiedererkannt und gleich mitgenommen und lese sehr gerne darin und bilde mich in indonesischer Geschichte.
Draußen werden die Geschichten weiter vertieft. Ich hole Zigaretten in meinem Lieblingsspätkauf. Es ist schön, dass der Spätibetreiber gerne raucht. Seine Stimme ist angenehm ruhig, und wenn man Bierflaschen zurückbringt, stört es ihn nicht. Er zählt sie auch nie nach, sondern deutet nur auf den Kasten da hinten, in dem man sie stellen soll.
Auch wenn er nicht so aussieht, erinnert er an Benjamin Horne aus Twin Peaks, weil sein Bruder (es ist, glaube ich, sein Bruder; in Twin Peaks heißt er Jerry) einen Kopf kleiner ist und runder. Einmal hatte sich ein Kunde beschwert; er fände es hier ja sehr schön, aber würde hier viel öfter kaufen, wenn nicht so viel geraucht würde.
Die Kundin vor mir, eine ältere Frau, hat auf ihrer Packung dies Arschlochmotiv. Die Schachtel mit dem denunzierenden, pornografischen Bild liegt auf dem Tresen. Schnell steckt sie sie ein. Auf meiner Packung ist das Baby. Ich sage etwas Abfälliges über die hässlichen Aufklärungsbilder. Er sagt, er hätte sie anfangs mit weißem Klebeband überklebt, bis man ihn darauf aufmerksam machte, dass ihm das verboten sei. Nur Kunden dürfen die Bilder überkleben.
Unter den vielen weggeworfenen Zigarettenschachteln auf Straße und Gehweg fällt das lieblose Arschlochmotiv am meisten auf; dies dekontextualisierte Loch im faltigen Umfeld. Die pornografischen Close-ups reduzieren die zahlenden Raucher auf die Krankheiten, die sie möglicherweise bekommen, wenn sie durchschnittlich viereinhalb Jahre früher sterben. Ich verstehe nicht, dass Raucher die Schachteln mit den hässlichen Bildern tatsächlich verwenden.
Ich habe alte Schachteln gesammelt, Rück- und Vorderseite ausgeschnitten und schiebe die alten Cover hinter das Cellophan der neuen Schachtel und freue mich am Gelingen.
Am nächsten Tag führe ich dem Spätihändler stolz meine Schachtel vor, und er schmunzelt.
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Im Mai beginnt die Ausstrahlung der dritten Twin-Peaks-Staffel. 25 Jahre später.