Montag, 8.1.2017
M. ist nicht mehr erreichbar. Wahrscheinlich ist er noch im Urban, der Akku alle.
Freitagvormittag hatte er noch aus dem Krankenhaus angerufen. Ich hatte gefragt, ob ich vorbeikommen solle, er hatte gesagt, es ginge nicht, weil er am Nachmittag eine Magenspiegelung hätte.
Ein paar Stunden später ruft er wieder an. Er hätte nun die Magenspiegelung abgesagt, weil man ihn 15 Stunden lang hätte warten lassen.
Ich konnte ihn mir bei dieser Absage, mit der er seine Restsouveränität behauptete, gut vorstellen und war gleich wieder ein bisschen genervt, weil er 2001 zum feindlichen Verein, dem Alkohol, gewechselt war.
Er hatte gefragt: Kannst du kommen?, und: Jetzt ist es wohl schon zu spät. Ich hatte geantwortet: Ja, jetzt ist es schon zu spät.
Lübeck, Dienstag, 9.1.18
Der Bus nach Lübeck ist nur halbvoll, also perfekt, auch weil es in Schwerin zehn Minuten Pause gibt.
Ich lese Oskar Negt, Achtundsechzig: Politische Intellektuelle und die Macht. Ich hatte es vor zwanzig Jahren schon einmal gelesen und will noch einen letzten 68er-Text schreiben. Irgendwann. S. ruft an; G., die Lebensgefährtin von M., sei am Sonntag gestorben.
Wir machen uns Sorgen um M., stellen uns vor, dass er sich ein letztes Mal die Kante gegeben hat und hilflos in seiner Wohnung liegt.
Zwei Tage später ruft er an, als ich mit einem Becher Kaffee im Garten stehe und rauche. Er sagt, G. ist gestorben. Ich sage, ich weiß das schon. Seine Stimme klingt so fest wie lange nicht mehr. Ich fühle mich angeschlagen und nervös wegen des Besuchs.
Später ist alles auf den ersten Blick weniger dramatisch, als ich erwartet hatte. Sie sitzt angezogen in ihrem Bett, sie freut sich, mich zu sehen.
Eine Weile erzähle ich, manchmal antwortet sie. Erst ist es grau gegen Abend; dann klart sich der Abendhimmel doch ein bisschen auf.
Fast eine Stunde schweigen wir. Sie schläft ein bisschen, ich lese ein bisschen, manchmal spricht sie das Vaterunser. Auf dem Nachttisch liegen talismanhafte Marienstatuen. Manchmal sage ich etwas; sie antwortet nicht. Die Uhr tickt. Ich schaue mir unser Kinderfoto aus den 70er Jahren an. Die Eltern hatten sich das Bild zu Weihnachten gewünscht, und als der Fotograf uns gebeten hatte, diese oder jene Pose einzunehmen, hatte ich das ein bisschen lächerlich gefunden. Nun gefällt mir das Bild; ich kann darin lesen. Wir sind gut dargestellt.
Die Zeit vergeht. Es ist eigentlich schön und ruhig. Ab und zu gibt es auf dem Gang vor dem Zimmer ein bisschen Krawall. Stört dich das? – Sie nimmt es als Zeichen von Lebendigkeit.
Ihre Augen sind klar.
Und wie sie winkt, als ich gehe.
Mittwoch, 10.1.18, Lübeck
Ich sage, ich übernachte in Lübeck bei K. Ich erzähle, wie schön es war bei K. zu Weihnachten; als alle gelesen hatten. Und wie gern ich immer die Bücher lese, die die anderen geschenkt bekommen haben. Und dass mir das Lesen am meisten Spaß macht, wenn alle lesen.
Du warst eine Leseratte.
Ich hatte unter der Bettdecke gelesen, und Papa war gekommen und hat kontrolliert, ob die Glühbirne noch warm war.
Ich sage, dass J. mir einen Schlafanzug geschenkt hat und sich vorstellt, wie ich den ganzen Tag im Schlafanzug faulenze, Fernseh gucke oder lese. Weil das so gemütlich ist. Und dass ich den schönen Schal von K. bekommen habe und ihn immer trage und mich wohl darin fühle. Und: Wie schön, dass aus den beiden Mädchen was geworden ist und sie ein gutes Leben führen. J. hatte es ja auch nicht ganz einfach. Und K. ist ja nun mit ihrem Freund in Hamburg gelandet, und sie haben eine schöne Wohnung in einer guten Gegend gefunden.
Sie sagt, das ist schön, und freut sich ein bisschen.
Wenn sie mit geschlossenen Augen, ohne Gebiss, ganz abgemagert, mit eingefallen Wangen daliegt, sieht sie ganz hoffnungslos aus. Nach einer Weile gewöhnt man sich daran, und wenn sie die Augen aufmacht, sind sie jung.
Manchmal schaut sie irritiert und wundert sich, wie sie hierhergekommen ist. Und döst dann wieder eine Weile.
Ich sage, deine Augen sind ganz schön.
Und: Ich habe fast die gleichen Augen.
Nur mit ein bisschen mehr grün.
Und dass wir die gleiche Nase haben.
Sie sagt, ich habe alles falsch gemacht.
Ich sage, ich habe auch alles falsch gemacht.
Sie lächelt und streicht mir über das Gesicht.
Ich sage, du hast drei Kinder großgezogen und aus allen ist was geworden, und du hast einen Führerschein gehabt und bist sogar mit dem Wohnwagen gefahren. Du hast in der Volkshochschule Französisch gelernt bei Herrn B. Und du hast Herrn B. ausgeschimpft, als er zu uns nach Hause gekommen war, um sich über mich zu beschweren. Und als Manu, mein französischer Austauschschüler, bei uns gewesen war, bist du mit ihm ins Legoland gefahren. Er sollte ja auch mal was sehen.
Ich sage, nun hab ich dich doch nicht geheiratet.
Sie sagt, nun hast du mich doch nicht geheiratet, und lacht ein bisschen.
Wir schweigen eine Weile. Ich halte ihre Hand mit den Gummihandschuhen. Der grüne Einwegkittel, den ich tragen muss, erinnert mich an den Kittel, den ich in der Pizzafabrik tragen musste. Nur Mundschutz brauchten wir da nicht.
Sie sagt, ich habe alles falsch gemacht.
Ich sage, ich habe auch alles falsch gemacht.
Sie lächelt und streicht mir über das Gesicht.
Sie sagt, ich komm in die Hölle.
Ich sage, das stimmt doch gar nicht. Du kommst eher in den Himmel, und dann hast du Flügel und kannst überall hinfliegen, und es tut nicht mehr weh, und außerdem gibt es die Hölle doch gar nicht, du Dummchen.
Ich sage, du hast so furchtbare Dinge erlebt; da warst du 13. Wie du von deinen Eltern getrennt warst. Die Flucht.
Ja, die Russen.
Aber es gab ja nicht nur die bösen Russen. Du hast ja auch ihre Musik so gerne gemocht und wie sie am Lagerfeuer getanzt hatten. Und wie du sie versteckt beobachtet hattest.
Weißt du noch, wie wir mit K., meinem polnischen Freund, die Strecke deiner Flucht noch einmal gefahren sind?
Sie kann sich nicht erinnern.
Sie fragt, du musst bald los?
Es ist zwanzig nach vier, in zehn Minuten.
Ich ziehe meinen Anorak an.
Ich frage, ob ich sie fotografieren darf.
Sie sagt ja.
Es gelingt ihr ein Lächeln.
Dann gehe ich wieder.
Dienstag, 16.1.18
Bei M. im Krankenhaus. Er ist auch isoliert, Krankenhauskeim. Man besucht ihn in Schutzkleidung, mit Mützchen und Mundschutz. Erst hatte ich vergessen, mir auch den Mundschutz umzubinden, und war von der Schwester, die ihm die Diabetes-Spritzen gab, darauf hingewiesen worden.
Er wirkt gefasst, aber vielleicht ist das auch seine Natur. Er weiß ja, dass er sich sein Leben selber ausgesucht hat.
Ein stiller Besuch. Eben war es noch Nachmittag; nun ist es schon dunkler. Wir gucken aus dem Fenster, 5ter Stock, und überlegen, in welche Richtung wir gucken.
Ist das nicht das KARSTADT-Zeichen?