Vielleicht später ist sozusagen ein defensives Mañana. Ein thematisch offenes Blog in der Jetztzeit mit Fotos, ein Versuch, in der Gegenwart zu schreiben. Die Gegenwart ist Berlin. Die Wege und Wände meist die gleichen wie in Umsonst & draußen. Vieles ist anders. Leute kommen vorbei. Die Fußball-WM, die wie Weihnachten oder Geburtstag immer zu früh kommt. An den Wänden gibt es Zeichen. Oder auf dem Boden. Wie in jedem Tagebuch geht es darum, sich selbst und die Welt im Blick des Anderen zu ordnen. In der Gegenwart. »Kommst du?« – »Vielleicht später«.
Ich war um sieben aufgestanden, um neun beim Arzt gewesen. Für uns beide war es ein Erfolg. Ich war nicht so panisch wie beim letzten Mal, war fokussierter und auch lustiger aufgetreten, vielleicht auch, weil eine andere Ärztin beim Termin zuhörte. Und er hatte mir mit einer Überweisung geholfen, die hoffentlich weiterhilft in sechs Wochen.
Die hospitierende Ärztin oder Medizinstudentin war mir sympathisch. Ich stellte mir das Hospitieren bei Arzt-Patiententerminen sehr interessant vor. Als der Arzt mir vorschlug, vielleicht doch auch an den Yogakursen teilzunehmen, die H. besuchte – die Freundin, die mich zu ihm gebracht hatte –, und ich antwortete, dass ich hoffte, in der nächsten Woche wieder Fußball zu spielen, deutete er ein soziomedizinisches Geflecht an, in dem ich mich irgendwie auch gehalten fühlte. Wobei ich gleichzeitig dachte, dass ich am liebsten eigentlich Badminton spiele und wie sehr ich das Badmintonspielen vermisse und dass ich J., mit der ich zuletzt – vor anderthalb Jahren – gespielt hatte und die mir aus Hongkong geschrieben hatte, immer noch nicht geantwortet habe. Weil ich nicht weiß, wie es ist, und keine Ahnung habe, wie es weitergeht. Und der Patient vor mir hatte ein schönes Hemd angehabt und ich hätte ihn fast zu seinem Hemd beglückwünscht.
Ich gehe spazieren bzw. einkaufen. Der Späti-Mitarbeiter fragt »wie immer« und meint Camel ohne, obwohl ich im Wechsel Zigaretten, Tabak oder Blättchen kaufe. (Immer nur eins.) Ich bin entsetzt darüber, dass es Aufkleber mit witzigen Worten, wie zum Beispiel »Alte Schachtel«, gibt, mit denen man die Aufklärungsbilder auf den Zigarettenschachteln wieder zukleben kann.
Der Fahrstuhl im Pflegeheim ist der langsamste der Welt. Es ist M.s drittes Zimmer in drei Monaten und jeweils mit einem neuen Zimmernachbarn. In der Vormittagssonne, die durch die Gardinen fällt, sieht sein Gesicht blasser aus als das letzte Mal.
Wir besprechen die letzten Fußballergebnisse. Ich begleite ihn zur Physiotherapie. Während er in die Pedale des Ergometers tritt, sitze ich wippend auf seinem Rollator. Weil er so viel redet, fällt sein Fuß manchmal aus dem Pedal. Die gut gelaunte junge Physiotherapeutin kommt, glaube ich, aus dem Osten. Sie beobachtet die Kontrollgeräte und isst eine Karotte dabei.
Später sitzen wir in seinem Zimmer über der Straße und spielen Schach. Wie in den 90er Jahren eigentlich, nur ohne Kiffen. Er spielt ein Läuferfianchetto, ich antworte abwartend. Erst sieht es gut für ihn aus; dann machen ihn meine Springer fertig.
Ein Pfleger, der ein bisschen rock’n’roll-mäßig aussieht, bringt Mittag. Es gibt Kartoffelpüree, Sauerkraut und Blutwurst. Als er den Teller hinstellt, guckt er auf’s Brett und kommentiert »spanische Eröffnung«. Es ist aber gar keine spanische Eröffnung. Wir spielen noch ein zweites Spiel und gehen dann raus.
Vor drei Monaten war er noch im Koma gewesen, nun schafft er es schon wieder bis zum Hermannplatz.