Vielleicht später ist sozusagen ein defensives Mañana. Ein thematisch offenes Blog in der Jetztzeit mit Fotos, ein Versuch, in der Gegenwart zu schreiben. Die Gegenwart ist Berlin. Die Wege und Wände meist die gleichen wie in Umsonst & draußen. Vieles ist anders. Leute kommen vorbei. Die Fussball-WM, die wie Weihnachten oder Geburtstag immer zu früh kommt. An den Wänden gibt es Zeichen. Oder auf dem Boden. Wie in jedem Tagebuch geht es darum, sich selbst und die Welt im Blick des Anderen zu ordnen. In der Gegenwart. »Kommst du?« – »Vielleicht später«.
Ich neige eher zur Short-Time-Nostalgie. Je älter ich werde, desto weniger Lust habe ich zurückzublicken, zumindest schriftlich. Ost und West und Mauerfall; tausendmal davon geschrieben, es ist vergangen. Dem alten Westberlin trauere ich nicht hinterher. Der DDR sicher auch nicht. Was zum Feiertag und zu 89 zu sagen ist, wird gesagt worden sein. Der 3. Oktober bedeutet mir nichts, außer, das die Einrichtung von Feiertagen zu begrüßen ist.
Dann blätterte ich im taz-Archiv und fand, was ich am Abend des 3. Oktober 1990 gemacht hatte. Der Auftrag, war glaube ich von André Meier gekommen; einem Ost-Kollegen, mit dem ich sehr gerne zusammengearbeitet hatte. Am 5.10.90 war der Text in der taz erschienen.
Das Begehren des »Superräubers«
Der Meeresforscher Hans Hass sprach bei IBM über den »Hai im Management«
Einige Wörter tauchen immer wieder auf: »total andere Produkte«, »total andere Leistungen«, »total andere Form des Energieerwerbs«; »optimale Tauschstrategie«, »optimale Ergebnisse«, »den Augenblick optimal ausnützen«, »optimieren«. Oder »Rationalisierung«, womit Hass besinnungslos immer die Seite der Vernunft meint — Zweckrationalität —, die Foucault als faschistisch denunzierte. Außerdem gibt es noch das »Phänomen des übernormalen Reizes«. Durchgängig verkleidet der freundliche ältere Herr seine Erkenntnisse mit Metaphernreihen: Die Nahrungsquelle des Tieres sieht er pawlowmäßig durch den Kunden ersetzt, von dem er als »Schlüsselreiz« spricht (dem Manager läuft das Wasser im Mund zusammen), um dann das Verhältnis zwischen Produkt und Kunden mit dem zwischen Schlüssel und Schloß zu vergleichen. Effektiv wäre es, einen Schlüssel zu bauen, der sich ganz genau in das Schloß einfügte (und dann wird das Schloß ganz feucht — sagt er nicht). Vertrauen und Zuneigung gewinnt man nicht durch Standard, sondern durch Speziallösungen (Noppenpräser). Dem IBM-Leiter, der sich zuvor noch dagegen verwahrte, einem patriarchalischen Betrieb vorzustehen, werden die Koitusmetaphern nicht allzusehr gefallen haben, auch wenn sie aus dem Munde von Professor Doktor Hans Hass kamen. Der Meeres- und Evolutionsforscher war ins IBM-Werk in Marienfelde gekommen, um mit seinem Vortrag über den Hai im Management das Wintersemester betriebsinterner Fortbildung zu eröffnen. Die klassische Trennung zwischen Ausbildung und Beruf, Schule und Ernst des Lebens ist längst schon dabei, sich aufzulösen: Der Kampf um die Arbeitsplätze beginnt im Klassenzimmer, und das Klassenzimmer ist gerade aus den Computerfabriken nicht mehr wegzudenken. IBM rühmt sich damit, daß täglich und weltweit 18.000 Mitarbeiter innerbetrieblichen Weiterbildungsmaßnahmen nachgingen. 2,5 Milliarden, also 3.000 DM pro Jahr und Mitarbeiter gebe man für die Weiterbildung aus.
Alles frischobello am S-Bahnhof Buckower Chaussee. Grün und gelb leuchtet das Holz; neu und lustig bimmeln die Spielzeugschranken. Neben Euromarkt, Grabmalfabrik und Videokopierwerk findet sich die IBM-Berlin-Niederlassung. Vor dreizehn Jahren wurde das neue Werk gebaut. Lichte Schachteln stehn nun in einer hügelig-grünen Gegend herum. Die meisten der 1.000 dort Angestellten, die nach des Tages Mühen zum Parkplatz und den Fahrradständern gehen, sehen so adrett und gut gekleidet aus, als kämen sie gerade aus der Universität. Lothar Späth hat IBM »Deutschlands größte Privatuni mit angeschlossenem Wirtschaftsunternehmen« genannt. Recht hat er, und der, der keinen Werksausweis am Revers stecken hat, ist ein wenig neidisch auf die ausgewiesenen Betriebsangehörigen und wartet beim Werkschutz und bekommt dann doch einen Anstecker. Wo die Gymnasiasten oder Studenten sich vor ihren Lernfabriken mit alternder Kunst am Bau zufriedengeben müssen, geht man hier mit der Zeit; alle paar Monate wechseln die Skulpturen im Lichthof, damit den Betriebsangehörigen nicht langweilig werde. Kunstleasing nennt man das wahrscheinlich.
In der Caféteria wirft der Betriebsleiter Edgar Rasch Tabellen an eine weiße Wand, um den Sinn der Fortbildung zu rühmen und die langen Ausbildungszeiten an Schulen und Universitäten zu geißeln. Nach fünfzehn Jahren, so behauptet die Tabelle von der Halbwertszeit des Wissens zum Beispiel, weiß der Universitätsabsolvent nur noch die Hälfte. Innerbetriebliche Weiterbildung wendet sich an den ganzen Menschen. Die IBM-Kurse verteilen sich auf drei Bereiche: Fachkompetenz, methodische Kompetenz, soziale Kompetenz. Die Bereiche sind durch drei Kreise — blau, grün und rot — dargestellt. Ihre Schnittmenge bezeichnet wahrscheinlich die Gesamtkompetenz des Mitarbeiters mit Führungsqualitäten.
Das Ziel ist der Kunde, weiß man bei IBM: »The goal is total customer satisfaction«, verkündet ein Plakat an der Wand, »it is a never ending process.« Wo »never ending« ist, kann auch Momo nicht weit sein: Im Kursus Zeitplanung, analysieren die Teilnehmer, »wo ihre Zeit geblieben ist«, und »entdecken die Zeitfresser«. In einem anderen Kurs erfahren sie vom »faszinierenden Chaos in der fraktalen Geometrie« und lernen die »Apfelmännchen« des »IBM- Fellows« Mandelbrot kennen. Die »grauen Herren« und Damen, die in ihrer Weiterbildung das »Lernen lernen«, »Ideenfindung« pauken, sich zur »Selbstmotivierung« motivieren, »Rhetorik«, »Präsentationstechnik«, Englisch, Informationsverarbeitung und Elektrotechnik üben, sind wahrscheinlich die größten Fans von Michael Ende.
Zumindest viele der männlichen IBM-Fellows werden zu Hans Hass gekommen sein, um sich noch einmal an die große, gefährliche und aufregenden Jungs-Abenteuerwelt zu erinnern. Der Titel des Vortrags, gleichzeitig Titel seines neuesten Buchs — Hai im Management —, schien so (und hier) nicht nur reißerischen Verlagsideen zu entspringen, sondern ganz realen Wunschphantasien zu entsprechen. Hass, Meeres- und Evolutionsforscher, der seit 1937 einer »freischwimmenden Tauchtätigkeit« nachgegangen war und mit dem »abendfüllenden Dokumentarfilm« (‚Zeitspiegel · Magazin für Entscheidungsträger‘) Abenteuer im Roten Meer ein Millionenpublikum bezauberte, dessen Haiaufnahmen am Korallenriff den Älteren unter uns unvergessen sind, ein schon etwas gebeugter, braungebrannter, kleiner Mann im dunklen Anzug, der viele »unbemerkte Filmaufnahmen von menschlichem Verhalten in allen Weltteilen« gemacht und in den siebziger Jahren »das erste Forschungsinstitut für Humanethnologie mit Irenäus Eibl-Eibelsfeldt« (›Zeitspiegel‹) gründete, sprach jedoch über die »Biologie wirtschaftlichen Fehlverhaltens«.
Zunächst freute er sich ganz besonders, daß er in diesen Tagen in Berlin sei und daß dies Berlin ja nun seine alte Stellung zurückbekommen würde. Dann suchte er tierisch-räuberisches Verhalten — ein Räuber sei der, der anderen »Energie« abzapfen würde, um selbst zu überleben — mit wirtschaftlichem Verhalten zu parallelisieren. Seine Theorie besagt, »daß trotz der äußeren Verschiedenheit der Vorgänge im Bereich der Tiere und der Pflanzen einerseits und der Wirtschaft andererseits gleiche Gesetzmäßigkeiten darüber entscheiden, was sich durchsetzt und was nicht«. Wie in der Nahrungskette immer mehr Rohenergie eingenommen werden müsse, als die eigenen Funktionen benötigten, so bekäme auch der Betrieb immer mehr von seinen Angestellten, als er ihnen, in Form von Geld, zurückgebe; und der Kunde, »die Quelle, an der ich Geld verdiene«, bekäme weniger, als er bezahlt. Besonders neu ist die Rechtfertigung des Kapitalismus durch naturgegebene Evolution sicher nicht. Interessant sind allerdings die »Scheinbegriffe« (würde Hegel sagen, da in ihnen keinerlei Arbeit am Begriff steckt), die dabei ständig verwendet werden: Wenn Hass, der auch als Unternehmensberater tätig ist, von »energokybernetischen Managementstrategien« redet, von »OBS« (optimale Betriebsstrategie), vom »Psychosplit«, ein paar Platitüden zur »Energontheorie« aufbläst etc., so ist das heiße Luft, die sich gut verkauft.
Wenn man bei bodenbrütenden Vögeln ein dreimal so großes künstliches Ei neben das Nest legt, dann übersiedelt das brütende Weibchen auf dieses und läßt ihr eigenes im Stich. Ein solch »überoptimaler« Schlüsselreiz sei das Geld. Denn im Geld würden die alten Sex-, Nahrungs- und Aggressionstriebe ihren Ausdruck finden: »Das Geld wurde zu einem ›Tausendsassa‹«, das heißt »zur Voraussetzung dafür, daß angeborene Triebe und erworbene Wünsche erfüllt werden können.« Nur, und das wäre das Kreuz des modernen Menschen, hätte der sich zu lange von seinem räuberischen Instinkt leiten lassen, der ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen läßt, sobald er Geld resp. Kunden riecht, und ihn dazu verführe, augenblicklich sein Begehren zu erfüllen, den Kunden zu übervorteilen etc. Das Begehren des »Superräubers« statt dessen, wie Hass ganz unironisch zwischen Anekdoten über weiße Haie erzählte, würde viel eher durch die »Strategie« erfüllt werden, die den Kunden König sein ließe und den »Arbeitnehmer« nicht übervorteile (der dürfe den »Arbeitgeber« auch nicht als »Melkkuh« betrachten), oder: am meisten Geld verdiene der, der nicht auf kurzfristige, sondern auf langfristige Erfolge setze.
»Wir befinden uns jedoch in einer kosmischen Übergangsphase«: Das räuberische, auf augenblicklichen Vorteil gerichtete Verhalten in der Wirtschaft, so schloß Herr Hass, der mit exakt zwei Sätzen auf drohende Ökokatastrophen und mit keinem Satz auf die Lage in den Trikontstaaten einging, sei im Abnehmen. Das freute auch den Betriebsleiter, der Herrn Hass noch ein wenig reizte mit der Frage, ob man denn nicht in jedem Fall ein »kleines Stückchen Raub« benötigen würde, um anzufangen, und mit der Positionierung der IBM schon »jenseits des halben Räubers« das geneigte Publikum ans Büffet schickte.
5.10.1990 taz Berlin lokal