Vielleicht später ist sozusagen ein defensives Mañana. Ein thematisch offenes Blog in der Jetztzeit mit Fotos, ein Versuch, in der Gegenwart zu schreiben. Die Gegenwart ist Berlin. Die Wege und Wände meist die gleichen wie in Umsonst & draußen. Vieles ist anders. Leute kommen vorbei. Die Fussball-WM, die wie Weihnachten oder Geburtstag immer zu früh kommt. An den Wänden gibt es Zeichen. Oder auf dem Boden. Wie in jedem Tagebuch geht es darum, sich selbst und die Welt im Blick des Anderen zu ordnen. In der Gegenwart. »Kommst du?« – »Vielleicht später«.
Erster Mai
Verkatert am Morgen geh ich zur Postbank, die immer noch lügt, dass ihr Girokonto umsonst sei. Auch die Fußball-Nationalmannschaft der Frauen lügt, wenn sie in einem Werbeclip für die Commerzbank behauptet, das Girokonto dort sei umsonst. Wer weniger als 1200 € Geldverkehr hat, muss nämlich bezahlen. Wie so oft sind die Geldziehautomaten kaputt. In der Gneisenaustraße laufen drei junge Leute mit einer Batikfahne herum, auf der nichts steht. Durch die Zossener Straße fahren zwölf Polizeimotorräder. Die Straßen in meiner Gegend sind angenehm leer. Am Kotti erklärt ein alternativer Touristenführer seinen ungefähr zwanzig Followern die ruhmreiche Geschichte des Revolutionären Ersten Mai auf Englisch. Jemand verteilt Zettel, auf denen steht: »Gegen Imperialismus hilft nur Revolution. Alles andere ist Illusion!« Ich bin genervt von den Flugblättern, die mir in die Hand gedrückt werden, muss dann noch bis 16 Uhr schnell einen Text zum Ersten Mai in der taz schreiben, in dem ich bezweifle, dass es je eine vernünftige Revolutionäre Erste-Mai-Demo gegeben hätte, und gehe dann wieder zum Kreuzberger Ersten Mai, wie ich immer zum Kreuzberger Ersten Mai gegangen bin.
Auf dem Weg
Und später treffe ich Gato und ihre mexikanischen Freundinnen, die das Gedränge auf den Straßen auch furchtbar fanden, und bin gleich wieder guter Dinge. Sie überreden mich, auch mit auf die Demo zu kommen.
Ende der 90er Jahre war ich, glaube ich, zuletzt mitgelaufen; auf einer sehr lustigen Demo »für nächtliche Ruhestörung/Gegen sinnlose Gewalt« und umgekehrt. Mir gefällt das Transparent der Freundinnen ganz gut; das Ambivalente auch, denn es ist ja nicht ausgemacht, dass der mit dem House einen more decent Job hat.
Hinter uns laufen zwanzig oder dreißig weißgeschminkte Leute; einer ruft immer laut irgendein Wort, und die anderen antworten »sind« bzw. »ist scheisse«, und ich freue mich, dass sie das auch machen, als ich »Zahnärzte« rufe, und sie geben mir ein Flugblatt mit politexistenziellen Gedichten. Zum Glück werden auf der Demo ansonsten kaum Parolen gerufen; es ist eher ein längerer Spaziergang.
Später sitzen wir noch in einer Dachgeschosswohnung, und eine der Mexikanerinnen erzählt, dass in ihrer WG durchgehend geschlechtsneutral gesprochen werde, und ich stelle mir vor, einen Roman in geschlechtsneutraler Sprache zu schreiben. Im Spanischen wird Ähnliches im Übrigen auch diskutiert.
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