Unter Fußballfreunden wird schon seit Ewigkeiten darüber gestritten, welche Meisterschaft die schönere ist. Die einen finden die EM besser, die anderen die WM. Die Befürworter von EM argumentieren mit der angeblich größeren Leistungsdichte bei der Europameisterschaft und sagen, bei der WM würden zu viele nicht so gute Mannschaften teilnehmen, was dazu führe, dass das Spielniveau nicht so hoch wäre wie bei der EM, die anderen sagen, das stimmt ja gar nicht und verweisen darauf, dass bei der diesjährigen EM 24 (also 8 mehr als sonst) Länder teilnehmen. (Wegen des Profits vermutlich dauert sie auch eine Woche länger als sonst.)
Vermutlich haben alle recht, und selbst wenn es stimmte, sind niveauvollere Spiele ja nicht unbedingt auch die spannenderen, resp. unterhaltsameren. Und außerdem liegt in der WM ja auch eine sozusagen weltumspannende Utopie. Und der Nachteil der EM besteht darin, dass keine asiatischen Länder wie zum Beispiel Japan teilnehmen.
Wie auch immer. Meine eigene Fußballguckkarriere hatte am 23.6.1973 begonnen. Ich war elf und guckte mein erstes Fußballspiel bei Nachbarn aus dem Ruhrgebiet. Es war das DFB-Pokalfinale zwischen Mönchengladbach und Köln, das bekanntlich Günter Netzer mit seiner Selbsteinwechslung in der Verlängerung entscheiden sollte. Da es mein erstes Spiel war, hatte ich noch keine Lieblingsmannschaft und schaute nur wie gebannt auf den Schwarz-Weiß-Fernseher, um das zunächst wirr scheinende Geschehen auf dem Platz richtig zu verstehen. Beide Mannschaften waren gleichwertig; es war ein rasend spannendes, unglaubliches Auf und Ab und Hin und Her, die Torwarte – Wolfgang Kleff und Gerhard Welz – hielten unglaublich gut; und nach dem Spiel wusste man, die Welt ist nun eine andere geworden.
Oder man war Teil einer anderen, größeren Welt geworden, man hatte etwas eigenes entdeckt. Kaufte von nun an regelmäßig das kicker-Sportmagazin und Sonntagvormittag BILD AM SONNTAG, weil die so einen ausführlichen Sportteil hatte, und spielte sowieso dauernd Fußball.
Die Welt des Fußballs ähnelte in gewisser Weise der Welt der Hippies und Freaks, die man dann später kennenlernte. Beides waren nicht-gymnasiale Welten. Was das Im-Verein-Spielen in der Welt des Fußballs, war das Haschrauchen in der Welt der Hippies.
Eventuell.
Mein enthusiastischer Eintritt in die große Wunderwelt des Fußballs war gleichzeitig von dem Wissen/Gefühl begleitet, das Beste verpasst zu haben, wenn die Älteren etwa mit leuchtenden Augen von der EM 1972 erzählten. Wenn man von Stan Libuda hörte oder las, dessen große Auftritte leider vor der eigenen Zeit gelegen hatten.
Als ich mit Fußball anfing, war Stan Libuda noch lebenslang in der BRD gesperrt, was ich mit 12 oder 13 irgendwie auch mit den RAF-Terroristen assoziierte. Und als er dann begnadigt worden war, konnte er nicht mehr an seine genialen Zeiten anknüpfen.
Dies Gefühl, einerseits ganz beglückt in einer anderen Welt angenommen zu werden und andererseits dort zu erfahren, dass man das Beste längst verpasst hat, sollte einen dann später das halbe Leben begleiten.
Seltsamerweise wurde ich dann nicht Gladbach-, sondern Schalke 04-Fan. Wer 1973 Schalke-Fan wurde, hatte es nicht leicht; die halbe Mannschaft war wegen des Bundesligabestechungsskandals gesperrt; die andere Hälfte wurde als Abstiegskandidat gehandelt, spielte aber als Outsider eine großartige, tapfere Saison.
Die Zwillinge Erwin und Helmut Kremers waren die Stars der Mannschaft. Helmut war Libero. Er war der Ruhigere, Umsichtigere, während sein Bruder Erwin impulsiver war. Von der Fachzeitschrift Bravo bekamen sie immer goldene, silberne, bzw. bronzene »Ottos« verliehen, weil sie so beliebt waren, wie z.B. David Bowie, Suzi Quatro, Günter Netzer, The Sweet und all die anderen Helden der 70er Jahre.
Obwohl Erwin zwischen EM 72 und WM 74 bei allen Spielen der BRD-Nationalmannschaft dabei gewesen war, durfte er leider nicht bei der WM 74 mitmachen. Im letzten, komplett unwichtigen Spiel gegen Kaiserslautern (was für ein Quatschwissen sich im Kopf doch angesammelt hat), hatte er den Schiedsrichter »Arschloch« genannt, und weil das 1974 noch nicht so üblich war, war er aus dem Kader geflogen. Helmut Kremers blieb, kam aber genausowenig wie der Schalker Torwart Norbert Nigbur zum Einsatz. Deshalb konnte ich mich 1974 nicht so richtig über den WM-Titel freuen.
Sondern litt lange darunter, dass ich die EM 1972 verpasst hatte, von der die Leute sagten, das wäre die beste DFB-Auswahl überhaupt gewesen. Ausserdem war Erwin Kremers als Linksaußen dabei gewesen.
Es war seltsam und superinteressant, die bundesdeutschen Spiele der EM 1972 vor ein paar Jahren zum ersten Mal zu sehen. Alles wirkte irgendwie psychedelisch und wie in Zeitlupe, weil die Fußballer nur halb so viel rannten wie heutzutage.
Bei der EM 76 war Hannes Bongartz der einzige Schalker im Aufgebot. Im Finale gegen die Tschechoslowakei wurde der »Spargeltarzan« eingewechselt und schoss sogar ein Tor im Elfmeterschießen, das bekanntlich durch den Fehlschuss Uli Hoeness’ verloren wurde. Vor seiner Fußballkarriere war Bongartz übrigens Kunstradfahrer gewesen.
Die WM 78 war sehr ambivalent. Einerseits war es toll, dass drei Schalker Spieler in der BRD-Auswahl standen – Rolf Rüssmann, Rüdiger Abramczik und Klaus Fischer –, andererseits schied die BRD bekanntlich schon in der zweiten Runde nach der »Schmach von Cordoba« gegen Österreich aus.
Die diesjährige EM wird vielleicht so ähnlich werden. Auf den ersten Blick sind zwei Schalker – Sané und Höwedes – im Aufgebot, aber eigentlich sind es vier. Manuel Neuer und Julian Draxler sind eigentlich ja auch Schalker, die nur bei anderen Vereinen spielen. Strenggenommen ist Özil eventuell auch Schalker, aber das wäre auch übertrieben.
Die Mannschaft gefällt mir ganz gut, auch weil sie so yin- und yangmäßig ist. Sie besteht zwar nur aus Männern, ist aber dennoch unter dem Namen »La Mannschaft« bekannt. Die meisten sind nett, z.B. Jérôme Boateng mit seiner lustigen Brille, objektiv gesehen sind aber Manuel Neuer, Julian Draxler, Leroy Sané und Benedikt Höwedes am sympathischsten.
Mein Lieblingsspieler ist dabei Benedikt Höwedes.
Der Schalker Kapitän wird auch oft »Löwedes« genannt, weil er ein so großer Kämpfer ist. Eigentlich ist er Innenverteidiger, wird aber vermutlich als Außenverteidiger eingesetzt. Auf dieser Position hab ich auch immer gespielt. Dass er kein Flankengott ist, ist nicht schlimm, sondern macht ihn menschlich. Manchmal macht er auch Kopfballtore. Außerdem ist er ein sehr guter Mannschaftsspieler, verläßlich, hat einen ausgleichenden Charakter usw. Ein Mann, dem man sein nichtvorhandenes Vermögen sofort anvertrauen würde, ein toller Mannschaftskapitän ohne diese leicht streberhafte Klassensprecherausstrahlung, die den berühmten Olaf Thon ausgezeichnet hatte. Bei der letzten WM hatte man zunächst ein bisschen Sorge, aber dann war es toll zu sehen, wie er die ihm zugeteilte, ungewohnte Rolle als Außenverteidiger, immer besser ausfüllte. Während man ihm zuschaute, wuchs man sozusagen auch in der eigenen Rolle als Kneipenzuschauer. Wobei ich die Spiele gegen Brasilien und Argentinien aber in einer Kirche geguckt hatte. Fällt mir grad ein.
Unter Fußballfreunden
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