Umsonst & draußen ist ein Fototagebuch, das wie das gleichnamige Buch Anfang 2006 beginnt. Das Material stammt größtenteils aus dem Blog november07, den Detlef Kuhlbrodt ab Ende 2006 und bis Herbst 2013 für die taz gemacht und für das Logbuch noch einmal durchgesehen, an einigen Stellen gekürzt und an anderen erweitert hat, um das Erzählerische zu betonen. Eigentlich ist Umsonst & draußen eher Fotogeschichte als Tagebuch; die Aufnahmen sind die Umgebung einer nicht erzählten Geschichte. Kuhlbrodt ist losgegangen auf der Suche nach Bildern, die irgendwie zueinanderpassen und dem Tag ein Gesicht geben. Manchmal sind die Helden Fahrräder, manchmal Autos, manchmal gibt es auch Menschen.
Donnerstag, 01.05.08
Und mit den Jahren hatte sich der Wandel ganz allmählich vollzogen. Die, die es früher vielleicht zu den Schlachten gezogen hatte, auf der Suche nach mehr Adrenalin, kifften nun am Mariannenplatz, aßen was oder tranken ein Bier, lasen wohl mal ein Flugblatt oder blieben an Ständen stehen, gingen ein bisschen spazieren, hörten Musik, spielten Fussball usw. Die Gruppe, die für 1968 war – 40 Jahre 68! – war nur eine von Vielen. Es wurden auch diesbezügliche Flugblätter verteilt, die sich gegen falsche Ansichten wandten.
Wir kegeln die Privatisierung weg. Eine Mutter schimpfte laut, weil sie befürchtete, dass die Kinder beim Kegeln beschädigt werden könnten.
Wir kegeln Wohnen, Monsanto, Vattenfall, Bildung und Wasser weg.
Ich bin für Klima. Aber ohne wenn und aber.
Drei Aktivisten der alternativen Pornoseite »Fuckforforest.com« drängten sich durch die Oranienstraße. Sie waren vielleicht zwanzig. Zwei schüchtern wirkende Jungs und ein dünnes Mädchen mit nackten Brüsten, bisschen bemalt. Eigentlich hatte ich sie was fragen wollen, doch sie liefen so schnell (aus Angst vor der eigenen Courage), dass sie gleich wieder weg waren.
»Fuckforforest« ist eine nonprofit-Organisiation. Es geht um sexuelle Befreiung und die Rettung des Regenwalds. (2013 kam ein Dokumentarfilm über Fuckforforest in die Kinos.)
In der Adalbertstraße, ein paar Meter weiter, schob ein Mann einen Einkaufswagen mit seinen Habseligkeiten umher. Er war vielleicht Mitte fünfzig und trug ein rotes T-Shirt, auf dem mehrmals in weissen Buchstaben stand: »Ich will mich verlieben!« Er schaute ein bisschen verstört, als ich ihn anschaute.
Häufig sah man Polizisten und Erste-Mai-Besucher im Dialog. Eine junge Frau stellte sich lachend zwischen zwei kräftige Polizisten und ließ sich dabei von ihrem Freund fotografieren.
Freitag, 02.05.08
Samstag, 03.05.08
Sonntag, 04.05.08
Dienstag, 06.05.08
Letzte Woche hatte es im Hinterhof der taz (die stolz darauf ist, nun in der Rudi-Dutschke-Straße zu residieren) ein Graffiti gegeben: »Rudi Dutschke hat gelebt und ihr?« Tagsdarauf hatten welche die Mülltonnen angezündet.
Es gab also unterschiedliche Positionen: die einen, vermutlich erst durch die taz-Kampagne auf Rudi Dutsche aufmerksam geworden, wandten sich gegen die Historisierung des Studentenführers, die anderen wollten ihn historisieren und wenn sie immer wieder erwähnten, wie toll und produktiv die Ecke Springer-Dutschke-Straße sei, dachte man automatisch: »schwarz-grün«, auch weil sich Dutschke damals ja mit dem grünen CDUler Herbert Gruhl verbündet hatte, der Anfang der 80er dies Buch Ein Planet wird geplündert veröffentlicht hatte, weshalb er dann wieder mit Helmut Kohl aneinandergeraten war usw.
Und die Linke instrumentalisert halt jeden, der bei drei nicht auf den Bäumen sitzt.
Obgleich mich dieser ganze Studentenführer-Quatsch lange arg genervt hatte und ich die Straße erst okay finde, seitdem es sie gibt, regte mich dies Plakat sofort auf. Die Unverschämtheit einen Toten für die eigene Partei zu instrumentalisieren. Diese Leichenfledderei; die Frechheit des großgeschriebenen LINKS usw.
(Aber auch lustig, nun vom Osten kulturimperialisiert zu werden.)
Mittwoch, 07.05.08
Der Tiger von Kreuzberg; eine lange Geschichte.
Donnerstag, 08.05.08
Dies Bild ist von 1997. Die U-Bahnpraktikantin heißt Judith.
Freitag, 09.05.08
stand in einem der Wohnungsangebote, das in dem Fenster hing, hinter dem Frau Schneider 16 Jahre lang Zeitungen und Zigaretten verkauft hatte. Sie gab ihr Geschäft dann auf, weil die Miete viel zu hoch wurde.
Samstag, 10.05.08
Die beiden sommerlich elegant gekleideten Alten hatten Brotstückchen ins Wasser geworfen. Der Mann sagte mehrmals, jetzt würden hundert Schwäne kommen und lachte dabei ein bisschen. Zwei Mädchen hatten am Ufer gesessen, ein Bier getrunken, eine Zigarette geraucht. Sechs kleine Jungs standen in Fussball-T-Shirts bewundernd bei dem kleinen, struppigen Hund, der »Noddy« oder »Naughty« hieß und genauso aussah, wie der kleine Stoffhund, den ich als Kind gehabt hatte. Sie spielten ungefähr eine halbe Stunde mit dem kleinen Hund und freuten sich, dass er auch auf türkisch zu reagieren schien.
Urbanhafen
Sonntag, 11.05.08
Der Tiger war guter Dinge an diesem Morgen.
Tigers Freund, Mitarbeiter und Manager Murat
Der taz-Fotograf gab sich viel Mühe, hatte aber keinen Draht zum Tiger.
U-Bahn-Umut war meine Lieblingsfolge. (Der Reklamemist am Anfang ist erst später dazu gekommen.)
Der Karneval war süper! Fast andächtig fühlte man sich wie in den Großen Ferien. Die vielen Urlauber, die nach Kreuzberg gekommen waren, hatten daran sicher auch ihren Anteil.
Der kleinste Wagen des Umzugs war der vom Club39. Sie spielten Born to be wild; eine Hommage sozusagen an 1968.
Montag, 12.05.08
Reste
Die Folge ist auch super!
Mittwoch, 14.05.08
Nicht weit von hier brannte derweil eine Papierfabrik.
H. kaufte immer so lustige Sachen.
Freitag, 16.05.08
Dann hatte ich den Fernseher einfach weggeschmissen.
Samstag, 17.05.08
Harry Hass, der letzte Beatnikdichter, wird heute 50.
Wer eine Fahrradleiche mitbringt, bekommt das neue Rad billiger in dem Fahrraddiscounter am Südstern.
Zuvor war hier die Cahuna-Lounge.
Sonntag, 18.05.08
Die Münsteraner
beim Dalai Lama vor dem Brandenburger Tor.
Irgendwann sollten alle so ein Friedensmantra mitsingen. Kaum jemand machte mit. Soweit ging die Dalai-Lama-Begeisterung dann doch nicht. So ein Mitsingen hätte zu sehr an die eigene Religion erinnert, mit der man nichts zu tun haben möchte, würde ich mal so sagen.
Auch ein Luftballon von uns war mit dabei.
Mittwoch, 21.5.08
Donnerstag, 22.05.08
Dresden
Die Ältern wollen das Kulturerbe erhalten.
Freitag, 23.05.08
Dresden
Das Weltkulturerbe war ihr Zuhause. Es ist 18 km lang. Sie hatte dort gesessen und Sauerampferblätter gegessen.
»Diese Brücke ist eine Sünde« finden Goethe, Schiller & Bach.
Landschaft mit blauem Wunder
So wird die Brücke genannt.
Es schneite Pollen. Ein kleines Mädchen, das mit ihren Eltern in dem Gartenlokal war, zeigte mit dem Finger auf zwei Leute und rief: »Guck mal, die rauchen!«
Pflanzen mit komischen Namen
Wie immer überlegte ich, wie es wäre, hier zu wohnen.
Im Leonhardi-Museum gab es eine sehr schöne Ausstellung mit Bildern von Goran Djurovic. Früher hatte mich der serbische Maler oft im Schach geschlagen.
Es tobte der Oberbürgermeisterwahlkampf.
Die ungarische Eisenbahn ist am besten. Die slowakische wahrscheinlich auch.
Später am Abend sprach Sandra Maischberger mit Helmut Schmidt im Fernsehen. Helmut Schmidt sagte:
»Die Speicherkapazität hier oben ist offensichtlich begrenzt.
Ich weiß noch wie Sie heißen.
Ich weiß auch wie ich selber heiße. …«
Die Momente des Zögerns vor allem auf Fragen (nach Religion), die ihm zunächst zu persönlich vorkamen. Und dass Der Mond ist aufgegangen sein Lieblingslied ist.
Samstag, 24.05.08
Sonntag, 25.05.08
Jump’s, Sportsfreunde; Nummer eins, Nummer zwei und ich bin Nummer drei.
Draußen standen neue, schicke Tische.
Montag, 26.05.08
Dienstag, 27.05.08
Dreifaltigkeitsfriedhof an der Bergmannstraße
Donnerstag, 29.05.08
Ich mochte es gleich gern.
Freitag, 30.05.08
Sommer!
»Du Schatz, du Liebling, Du Engel!«
vs.: »Du Idiot, du Penner, du Arsch.«
Die Folge auch super!
© Alle Fotos: Detlef Kuhlbrodt