Umsonst & draußen ist ein Fototagebuch, das wie das gleichnamige Buch Anfang 2006 beginnt. Das Material stammt größtenteils aus dem Blog november07, den Detlef Kuhlbrodt ab Ende 2006 und bis Herbst 2013 für die taz gemacht und für das Logbuch noch einmal durchgesehen, an einigen Stellen gekürzt und an anderen erweitert hat, um das Erzählerische zu betonen. Eigentlich ist Umsonst & draußen eher Fotogeschichte als Tagebuch; die Aufnahmen sind die Umgebung einer nicht erzählten Geschichte. Kuhlbrodt ist losgegangen auf der Suche nach Bildern, die irgendwie zueinanderpassen und dem Tag ein Gesicht geben. Manchmal sind die Helden Fahrräder, manchmal Autos, manchmal gibt es auch Menschen.
Sonntag, 01.06.08
Die Zahnschmerzen formten ein gleichschenkliges Dreieck in meinem Mund. Ich riss ein Stückchen Haut aus dem Nagelbett des rechten Daumens, aber so, dass es nicht anfing zu bluten. Weil es plötzlich Sommer war und warm überall, rauchte ich am Nachmittag einen kleinen Joint in der Wohnung. Später wurde ich müde. Ich bekämpfte die Müdigkeit mit Zigaretten, Kaffee, Autofahren. Der Sommer wurde intensiver, aber ich war selbst noch nicht ganz da.
(EM 1972; England – BRD 1:3)
Lange hatte ich die DVD gesucht, schließlich hatte ich sie in dem Keller-Kiosk bekommen, in dem vor zwei Jahren ein Mann versucht hatte, einen anderen zu töten. In dem Kiosk von Frau Schmidt hatte wochenlang ein Fahndungsplakat der Polizei gehangen.
Ich hatte das berühmte Halbfinalspiel schon immer mal sehen wollen. Die Leute sagen, die westdeutsche Mannschaft von 1972 sei die beste aller Zeiten gewesen. So fantastisch wie erhofft war es dann aber doch nicht. Aber viel besser (und schneller) auch als befürchtet. Ein Reiz des Spiels war vielleicht, dass die beiden brilliantesten Spieler – Beckenbauer und Netzer – auf Seiten der Deutschen spielten, die doch ziemlich unter Druck standen.
Die deutschen Spieler machen beim Handgeben einen Diener. Aber die glaube ich nur im deutschsprachigen Raum geltende Regelung, beim Handgeben einen Diener zu machen, ist schon etwas aufgeweicht. Der Außenverteidiger Horst Dieter Hoettges, der Eisenfuss aus Bremen, der ein fantastisches Spiel machen wird, verbeugt sich fast übertrieben; andere eher angedeutet. Der 20-jährige Paul Breitner verbeugt sich überhaupt nicht.
Bei der Nationalhymne bewegt niemand auch nur die Lippen. Das Mitsingen hatte glaube ich erst nach ’89 angefangen.
Beide Nationalhymnen werden schnell, fast rockig von der Militärkapelle auf dem Platz gespielt. Der Ton ist leicht übersteuert wie bei dem legendären Wembley-Konzert von T. Rex, das im gleichen Jahr stattfand.
Die ersten 20 Minuten gibt es nur O-Ton, da das Mikrofon des Kommentators ausgefallen war.
Die Spieler sehen manchmal etwas komisch aus, weil die Hosen so kurz waren und weil es Vorschrift war, die Trikots in die Hosen zu stecken .
100 Jahre lang waren die Fußballhosen immer kürzer geworden, um dann, nach 1974, allmählich wieder länger zu werden.
Die Zuschauer rufen: »IAO – England ist k.o.!« und »Deutschland vor – noch ein Tor!«
Müller, Netzer, Hoeness
Das Spiel endete 1:3.
Montag, 02.06.08
too late
Das Gras im Volkspark am Friedrichshain war schon ein bisschen versteppt. Das Gras auf dem Fußballplatz sah dagegen sehr gut aus. Den halben Tag war es besprengt worden. Die, die hier trainierten, spielten auf einem ganz okayen Niveau.
Barfuß und leicht angedichtet – wir feierten Geburtstag – war ich zu dem Platz gegangen und hatte zugeguckt.
Sie spielten vier gegen vier auf ein Tor. Der eine hatte den anderen gefoult; der Gefoulte lag auf dem Boden. Das Foul war fies gewesen. Einer hatte noch halb auf dem Boden gelegen, das Bein kurz gehoben, als der anderen vorbeigehen wollte. Aber so getan, als wenn nichts wäre. Mit einem zugleich erschrockenen und wütenden Ruf, war der eine dann schön hingeflogen. Während der andere so tat, als wenn nichts geschehen wäre. Und der Torwart, der alles gesehen hatte, rief: »Frankie, du Schwein, du hast ihn berührt!«
Mittwoch, 04.06.08
Morgens
auf der Straße
abends im taz; Konferenzraum.
Und nichts im Übermaß.
Die Zeit scheint wieder schneller voranzugehen, das liegt wohl am Sommer.
Donnerstag, 05.06.08
Freitag, 06.06.08
Vor einem Jahr starb Harald Fricke.
Auf dem schönen Sportplatz spielten, glaube ich, vor allem Diplomatenkinder. Gregor Gysi und andere Berühmtheiten wohnten in der Nähe.
Die Firma Haubitz war hier auch recht aktiv.
Namensentwicklungstechnisch war die Haubitze ursprünglich eine Steinbüchse zum Beschuss von lebenden Kräften im Feld.
Wolf Klein liest aus seinem Buch Begegnungen im Blumenladen vor. In seinem Blumenladen gab es keine richtigen Blumen, sondern nur Fotos von Blumen zu kaufen, wodurch sich unterschiedliche Gespräche entwickelten.
Graf Tati singt seine Lieder. Sein Debütalbum Lind war vor einem halben Jahr erschienen. Er war lange nicht mehr aufgetreten und sagte, bevor er dann sang, er sei sich nicht ganz sicher, ob er nicht vielleicht schon zu betrunken zum Singen wäre. Aber alles lief primstens und passte auch sehr gut in den Sommer.
Am besten gefällt mir Friedhof im August auf Ecstasy und Gras.
Anke Balkon & Garten und Kai von Kröcher, der Fotograf vom Club 49 sind auch dabei. Wir hatten uns im Internet kennen gelernt.
Später hatte der Bandbusfahrer Geburtstag. Diese Botschaft hatten ein paar Mädchen der Band, die er fuhr, noch mitgeben wollen. Die Band hatte sich sehr gefreut, das Plakat jedoch im Bus vergessen.
Samstag, 07.06.08
Umut’s Spätshop rules Ecke Schleiermacherstraße.
Minigolfplatz, Brachvogelstraße.
Tiger erklärt die EM-Fussballspiele in Tigers Süper-EM-Stüdyo.
Sonntag, 08.06.08
Rosi als Sexbombe hatte Katrin Schings mal gemacht.
»I was her« ist mein Lieblingsgraffiti.
»Prenzlauer Berg ist voll Heidelberg!«
Nachdem Polen gegen Deutschland verloren hatte, war Pavel ganz traurig, am nächsten Tag aber wieder guter Dinge, denn sein Mutterland ist Holland. Ich selbst bin aus alter Gewohnheit wieder für Rumänien. Aber auch noch für ein paar andere Länder aus verschiedenen Gründen.
Mittwoch, 11.06.08
Als ich in M’s Zimmer trat hatte das Spiel gerade angefangen. Wir guckten und redeten über Fussball. Wie immer, wenn wir über Fussball redeten, kamen wir in die siebziger Jahre. Während wir über Gerd Müller sprachen, dachte ich, dass es vielleicht auch mit dem Haschisch zu tun hat, dass wir immer über die siebziger Jahre redeten. Dass es vermutlich an dem durch Haschisch mitverursachten Kurzzeitgedächtnisverlust liegt, der die letzten dreißig Jahre wie nichts zusammenschmelzen ließ. Andererseits war das die Zeit gewesen, in der wir beide, ein bisschen mehr, ein bisschen weniger, zwischen zehn und zwanzig gewesen waren, in einem Lebensalter also, in dem man so intensiv wie später nie mehr am Fussballgeschehen teilnimmt. Außerdem hatte ich ja neulich auch dies EM Siel von 1972 zwischen England und Deutschland angeguckt und prima gefunden und beide Mannschaften waren bekanntlich super.
Die Stutzen der Türken waren genauso hellblau wie die Stutzen der Holländer.
Weil mir der Zimmerfernseher zu klein war, ging ich nach draußen, um in der kreuzbergerischen Öffentlichkeit weiter zu gucken.
Draußen, in der Schönlein- oder Graefestraße war die Leinwand im Verhältnis zum Bürgersteig ungeheuer breit. Links und rechts neben der Leinwand stand ein Fernseher.
Im Angebot: unterschiedliche Variationen von Ofenkartoffel, Bionade, Tee und kleine Biers für 1,80.
Anwohner. Passanten.
Auf der Bank vor mir vier Freunde, gutaussehend, um die 16 vielleicht. Schwarze Locken. Eher arabischer Herkunft. Ihnen war bewusst, dass sie in der Öffentlichkeit standen und dass diese Öffentlichkeit selbstverständlich annahm, dass sie als Migrantenjugendliche für die Türkei waren, obgleich es unklar war, ob überhaupt einer von ihnen türkische Wurzeln hatte.
Einerseits waren sie tatsächlich für die Türken; andererseits schienen sie sich gegen die Zuschreibung (dass sie also für die Türken sein müssten) zu wehren. Sie wehrten sich dadurch, dass sie die ihnen unterstellte Mannschaft weniger anfeuerten, als von den anderen Zuschauern erwartet (die ihrerseits, als zurückhaltende Grünenwähler, auch aus politischen Gründen, für die Türken waren).
Sie lachten als der Schweizer Spieler Senderos nach einer lustigen Rutschpartie völlig verdreckt war. Dass er sogar Dreck in seinem Gesicht hatte. Gumma – haha! Jubelten dann eher verhalten bei dem ersten türkischen Tor.
Ein Ex-Punk rief immer laut »Türkye« und schien dabei zu erwarten, dass die Jugendlichen mit einstimmen würden. Den Jugendlichen war das laute »Türkye«-Rufen aber ein bisschen unangenehm. Oder sie hatten keine Lust, mitzurufen, weil sie die Anfeuerungen des Punks opportunistisch fanden; als ob sie den Punker verdächtigten, sich bei ihnen einschleimen zu wollen.
Als Arda Turan dann loszog, standen sie doch auf und feuerten ihn an und sprangen jubelnd in dei Luft nachdem das Tor gefallen war.
Nach dem Spiel gingen alle wieder.
Die halbe Nacht dann an- und abschwellendes Jubelhupen und -singen.
Donnerstag, 12.06.08
Wir guckten in dem Dings neben der Bar25. DJ Acid Bastard hatte unter seiner Jacke wieder ein Deutschlandtrikot getragen. U. war stylish ausschließlich Schwarz und Weiss angezogen. R. hatte ein rotes Tuch auf dem Kopf, um damit die kroatische Mannschaft zu unterstütze. Ich meinte zunächst für Kroatien zu sein, weil der Schalker Ivan Rakitic bei den Kroaten mitspielte. Die Hälfte der Leute – die meisten zwischen 20 und 30 – in der Halle unter der S-Bahn standen bei der Deutschlandhymne auf. Manche sangen sogar mit. Bei der kroatischen Hymne erhoben sich nur drei Leute, setzten sich aber schnell wieder, wohl weil sie sich stehend zu exponiert gefühlt hatten.
Obgleich die Kroaten klasse spielten, wurde ich nach dem 2:0 doch etwas missmutig; insgeheim war ich wohl doch für die Unsrigen gewesen. Das heisst eigentlich hatte mir ein 1:1 vorgeschwebt. Bzw. vorgeschwoben.
Irgendwann sagte der Kommentator: »… dann wäre es gefährlich gewesen geworden.«
Später sprachen wir über Janwillem van Weterens Buch Der leere Spiegel. Keine Ahnung, wie wir darauf kamen. Jordi las es gerade und ich hatte es zufälligerweise im Sommer vor zwei Jahren in Polen gelesen und als ich es damals gelesen hatte, hatte ich gemeint, es schon einmal als Teenager gelesen zu haben. Es kann aber auch sein, dass ich das Buch mit einem anderen von Alan W. Watts – Zen-Buddhismus – Tradition und lebendige Gegenwart“ verwechselt hatte. Die Zen-Geschichten gleichen einander ja.
Sonntag, 15.06.08
Ich guckte in dem türkischen Lokal »Melodie«, in dem ich vor Jahren schon einmal das WM-Spiel der Türkei gegen Brasilien gesehen hatte. Erst jetzt fiel mir auf, dass es ein Fenerbace-Lokal war. Ich hab vergessen, was die Gegensätze zwischen Galatasaray und Fenerbace sind.
Bis auf die Bedienung waren in dem Lokal nur Männer. Vom Tresen aus sah man in einen Spiegel, der durch die Tür weit die Straße hinunterblickte, die in einem wunderschönen Blau erwartungsvoll und romantisch Richtung Nacht dämmerte. So schön war mir Berlin sehr lange nicht mehr vorgekommen.
Ich war so sehr für die Türkei, wie ich nur selten für Deutschland bin, was auch mit der Spielweise zu tun hat und vielleicht auch damit, dass die Männer in dem Lokal supergespannt und meist still, also sehr angenehm waren.
Während die meisten anderen vor der Leinwand saßen, saß ich fast allein am Tresen. Empfindungstechnisch bin ich glaube ich eher bi- bis tri-national. Weil ich sozusagen der Fremde war im Café meiner Nachbarn, fühlte es sich zuhause wie Urlaub an. kurz stellte ich mir vor, wie schön es wäre, wenn ich jeden Tag in dies Lokal zum Zeitunglesen gehen würde.
Das letzte Gruppenspiel gegen Tschechien, war praktisch das »Achtelfinale« der EM, da beide Mannschaften die gleiche Anzahl an Punkten und die gleiche Anzahl erzielter Tore besaßen und im letzten Spiel direkt aufeinander trafen.
Nervös rauchend lief ich in der Pause die Straße auf und ab und beobachtete zwei kleine türkische Jungs. Sie hatten ein kleines Megaphon mitgebracht und riefen schüchtern zwei oder dreimal »Türkye« in das Megaphon und grinsten sehr nett dabei.
Tschechien bestimmte über weite Strecken das Spiel. Beim Stande von 2:0 sagte der Mann, der mich in dem Lokal begrüßt hatte, nun sei es aus und vorbei und war ganz fatalistisch. Ich sagte, nun gut – die Türken müssen nur treffen.
In dem Moment, eine viertel Stunde vor Schluss, als einer der Männer dabei war, beim Stand von 2:0 für Tschechien, auf die Türkei zu setzen (in diesem ans Internet angeschlossenen Wettautomaten) schoss Turan das 1:2. In der 87. Minute dann der Ausgleich durch Nihat Kahveci, der meist nur Nihat genannt wird, und in der 89. Minute der Siegtreffer durch den gleichen Spieler. Dass in der Nachspielzeit Torwart Vulkan vom Platz flog, störte keinen mehr.
Das Spiel war der Hammer! Alle türkischen Tore hatte Hamit Altintop vorbereitet.
Dann waren die türkischen Männer ganz außer Rand und Band. Die meisten sahen gut aus. Einer trug die türkische Fahne fast wie ein Lätzchen über seinem Bauch. Andere trugen sie wie Harry Potter seinen Zaubermantel.
Dienstag, 17.06.08
Ich suchte einen Ort, an dem beide Spiele gezeigt werden und landete wieder im Vereinslokal von Türkyemspor. Das Lokal war halb voll. Diesmal stand ein anderer Mann hinter dem Tresen. Er fragte, was ich trinken wolle. – Ein großes Bier. Ich kam ja gerade vom Fußballselberspielen und hatte viel Durst. Er fragte, ob ich ein Becks oder ein Grafenwalder Pils haben wolle. Das zweite Bier, ein Gummibier in einer Plastikflasche, könne er mir empfehlen. Es koste auch nur 1,50. Ich nahm ein Becks und sagte, in der zweiten Halbzeit würde ich das andere nehmen.
Er fragte, für wen ich wäre. Ich sagte: »Rumänien«; er sagte Holland. Ich spulte noch hastig drei Nebensätze ab, die erklärten, weshalb ich für Rumänien sei.
Wen ich noch gut gefunden hätte. – Die Türkei natürlich.
Welche Spieler der Türkei mir besonders gut gefallen hätten. – So direkt gefragt fielen mir nur Altintop und Volkan ein. Ich sagte, dass ich Altintop seit seinen zwei Toren gegen Dortmund vor fünf Jahren super fände und auch schade, dass der Trainer Halil Altintop zu Haus gelassen hatte.
Der Mann war viel kompetenter als ich.
Vielleicht hatten sie dann den Ton des Rumänienspiels wegen mir angestellt; ich war ja der einzige Fremde in dem Lokal.
Vor der Leinwand wurden zwei Reihen mit Stühlen aufgebaut.
Ich stand eine Weile am Tresen und setzte mich dann an einen der runden Tische mit den grünen Filztischdecken, an denen die türkischen Männer sonst Karten oder anderes spielen. Kurz war ich unsicher, ob es unhöflich war, dass ich mich an einen dieser Tische gesetzt hatte. Etwa in der Mitte der ersten Halbzeit wechselte ich meinen Standort und setzte mich an den Rand einer der Stuhlreihen vor der Leinwand.
Manche waren sich sicher, dass die Holländer extra schlecht spielen würden, um so Italien aus dem Turnier zu kicken.
Meine Bierflasche stand auf dem Boden und kippte aus Versehen um.
Ich fragte am Tresen, ob ich einen Lappen haben könne.
Der Tresenmann kam mit einem Wischmob. Während er die kleine Bierlache wegwischte sagte er: »Das ist mein Job; dafür bin ich ja da.«
Vier türkische Jugendliche kamen und setzten sich neben mich in meine Reihe. Sie trugen schicke T-Shirts. Auf der Vorderseite stand: »I never wanted to be a rolemodel«, auf der Rückseite »it just happened«. Vielleicht hatte er Verwandte in London besucht gehabt (viele Berliner Türken haben Verwandte in London) und es sich dort gekauft; vielleicht hatten Verwandte aus London es ihm geschenkt gehabt.
Sie baten einen anderen, für sie in diesem Automaten darauf zu wetten, dass vor der Pause kein Tor mehr fallen würde.
Der Barkeeper kam und fragte, ob sie was Heißes oder was Kaltes trinken wollten. Die Jugendlichen sagten, sie müssten erst überlegen. Fünf Minuten später kam der Barkeeper wieder und fragte noch einmal schon etwas ungeduldig das Gleiche. Einer der Jugendlichen sagte, aber sie wären doch erst eben gekommen.
Die Jugendlichen retteten sich in die Pause. Dann gingen sie. Wären sie sitzen geblieben, wären sie rausgeflogen. Vielleicht waren sie auch deshalb erst gegen Mitte der ersten Halbzeit gekommen, weil sie die Zeit, in der es möglich war, umsonst hier zu sitzen auf 20 Minuten eingeschätzt hatten. Und der Barmann hatte in meiner Gegenwart nicht grob gegenüber den Jugendlichen sein wollen.
Ich holte mir ein zweites Bier, das Grafenwalder Gummibier, stellte mich mit dem Gummibier vor das Lokal und beobachtete die Gegend und die Jugendlichen, die vom U-Bahnhof aus die Gegend kontrollierten. Im Abendlicht sahen die Häuser klasse aus und die Gegend war super.
Die Gegend oder mein Blick auf sie, hatte sich verändert in dem Moment, in dem ich das Vereinslokal von Türkyemspor betreten hatte.
Dann hatte T eine SMS geschickt, in der stand, dass es auf dem Gleis-Beachvolleyballgelände an der Möckernstraße ganz toll sei.
So war es auch, auch nicht zu voll, und wie im Urlaub mit vielen Bäumen zwischen den beiden Zelten kam man sich vor, wie auf einer Open-Air-Party.
Schade nur, dass die Rumänen, nicht so gut spielten, was aber auch damit zu tun hatte, dass die Holländer so gut waren und von den Franzosen ja keine Hilfe mehr zu erwarten war. Neben Ti saß U., die mit einer holländischen Nationalspielerin befreundet ist.
Der deutsche Kommentar des Spiels war eine einzige Unverschämtheit. Jedes kleine Lob für die Holländer (die ja nur mit einer B-Elf spielten, wie der Kommentator ununterbrochen wiederholte) war mit einer Beleidigung der Rumänen verknüpft. Anstatt das Spiel in seiner Eigenart zu analysieren, schimpfte der Reporter auf die Rumänen, als hätten die ihm irgendwas getan. Die Verliererverachtung in der deutschen Fussballberichterstattung ist bei dieser EM besonders stark ausgeprägt.
Eine Weile unterhielten wir uns noch über Stereotypen in der Berichterstattung, über unterschiedlichen Fussballguckorte; sprachen darüber, wie angenehm es gewesen war, in türkischen Lokalen zu gucken, wie höflich man dort empfangen worden war und wie angenehm die Einrichtung türkischer Lokale ist.
U., die mit einer ehemaligen holländischen Fussballnationalspielerin zusammen ist, erzählte, sie hätte an der Werbekampagne von Granturismo2 mitgearbeitet. Endlich hatte ich jemanden gefunden, der es nicht völlig durchgedreht findet, wenn man als erwachsener Mensch mit der Playstation Autorennen fährt.
So passiert immer etwas, das an etwas anderes erinnert.
Mittwoch, 18.06.08
Morgens
Griechenland -Spanien sowie Russland – Schweden waren angesagt.
Es endete 1:2 und 2:0.
In der Kulturbrauerei waren viel weniger russische Fans als ich erwartet hatte. Eine Gruppe von acht russischen Fans wurde stundenlang von einem Filmteam von Pro 7 gefilmt. Im Fernsehen wird alles anders ausgesehen haben.
Donnerstag, 19.06.08
0:0
Mañana, der Techno-DJ, war entsetzt, als vielleicht zwanzig Leute bei der Deutschlandhymne aufstanden und einige sogar mitsangen und als es dann so geregnet hatte, waren wir in den Hangar gegangen und hatten dort auf dem Boden zwischen Leuten, die auf Stühlen saßen, gekniet.
Sekunden bevor der Anschlusstreffer für Portugal fiel, rief vor mir jemand in sein Handy »nun sind wir wieder wer« und es klang nicht wirklich ironisch.
Bei einigen Anfeuerungen für unsere Mannschaft, wurde mir wieder schlecht. Als manche »Sieg!« riefen oder im Chor dann: »Steht auf, wenn ihr Deutsche seid« und viele tatsächlich aufstanden.
Im Fußballguckerclub in der Torstraße, bei der WM 2006, hatten auch Freunde sehr darauf geachtet, dies Nationalistische zu vermeiden. Wenn einer angefangen hatte mit »Steht auf, wenn ihr Deutsche seid«, hatten zehn oder zwanzig dagegen gerufen: »Steht auf, wenn ihr für Deutschland seid.«
Nach dem Spiel beglückwünschte man sich. Man gab sich die Hand, umarmte einander oder stieß miteinander an. Betrunken endeten wir in der Bar25. Eigentlich hatten zwei von uns noch zum Kudamm fahren wollen, waren aber auf dem Weg dorthin wohl über einige Biers gestolpert und blieben deshalb hier.
Freitag, 20.06.08
Als ich mit T. und E. in das Lokal von Türkyemspor gegangen war, hatte ich an Croatcat gedacht, die am Strand der Spree guckte und ein bisschen bedauert, dass ich mich nicht zweiteilen kann.
Bevor das Spiel losging, hielt der Präsident von Türkyemspor eine kleine Ansprache, die von Fairness handelte. Egal wie es ausginge, es ginge darum, ein schönes Fest zusammen zu feiern. Ungefähr die Hälfte der Zuschauer waren deutsch. Beim letzten Türkeispiel seien weniger Deutsche hier gewesen, sagte T. und stellte mir Oflu vor, der früher mal bei Hertha gespielt hatte, nun eine Jugendmannschaft von Türkyemspor trainiert und im Lokal alles im Blick hatte.
Das Spiel wurde auf zwei Leinwänden gezeigt. Auf der linken Leinwand lief die ARD-Übertragung, auf der rechten die Übertragung des türkischen Fernsehens. In der ersten Halbzeit hörte man den deutschen, in der zweiten den türkischen Kommentar. Das deutsche Bild war in kühleren Farben als das deutsche Bild. Vor allem aber kam das deutsche Bild immer etwas, vielleicht eine, vielleicht eine halbe Sekunde später als das türkische Bild.
Ein Kamerateam war auch dabei. Sie standen neben den Leinwänden. Immer, wenn sich eine wichtige Szene andeutete, richtete der Mann, der für’s Licht verantwortlich war, das helle Licht auf die Zuschauer, um ja nicht die großen authentischen Emotionen zu verpassen. Das störte ein bißchen beim Gucken und war auch nicht notwendig.
Ab und zu deutete es sich an, wie laut es in dem niedrigen Raum werden würde, wenn die Türken ein Tor schießen würden.
In der Pause vor der Verlängerung erzählte Ti, die ein bisschen türkisch kann, von der großen Höflichkeit des türkischen Fernsehkommentators, der die Zuschauer immer als »meine lieben Zuschauer« anredete.
Die Verlängerung guckte ich in einem Nebenraum, in dem ein deutscher Fernseher mit leicht verwischten Farben lief. Nach dem 1:0 für Kroatien verließen manche schon enttäuscht das Lokal. Ich notierte mir das und als ich wieder aufschaute, zog xxx auf’s Tor. In dem Moment, in dem er schoss, hörte man schon den großen Jubel aus dem anderen Raum. Ganz seltsam.
Und der Rest war dann Geschichte.
Alle tanzten vor dem Lokal. Der Präsident tanzte besonders gut. Er freute sich auch darüber, dass er alles richtig vorausgesehen hatte: »Wir werden im Elfmeterschießen gewinnen.«
Zum Abschied umarmte Oflu, der ehemalige Fussballprofi, die Freundinnen, sagte, dass wir der türkischen Mannschaft Glück bringen würden und dass wir das nächste Mal wieder kommen sollten. Als er bemerkte, dass ich unsicher war, wie sich Männer auf türkisch verabschieden, ging er auf mich zu, sagte: »So macht man das – Wange an Wange.« Was wir dann auch taten.
Dann fuhren wir zum Kudamm. Wie toll und gleichzeitig auch fast beängstigend das Jubelhupen unter den S-Bahn-Brücken in der Yorckstraße geklungen hatte.
Soviele Menschen hatte ich zuletzt bei der Love-Parade am Kudamm gesehen. Oder früher bei Demos. Manches war ähnlich; anderes unterschied sich. Betrunkene gab es nur selten.
Und auch weil eben fast alle rot angezogen waren, sah der Kudamm nun ganz anders aus. Die Berliner Türken feierten das Glück und zeigten, dass sie da sind.
Bei manchen blonden Mädchen in türkischen Trikots, dachte ich, dass sie vielleicht in einen türkischen Jungen verliebt sind. Oder dass sie ihre türkischen Klassenkameraden supporten wollten.
Am Wittenbergplatz gab es fast eine Schlägerei, die dann doch noch verhindert wurde.
In der Höhe Urania hatte es nach verbranntem Gummi gestunken.
Manchmal fühlte man sich beengt in der Masse. Dann ging man halt woanders hin.
Die Freude auf den Gesichtern mancher Menschen, die am Straßenrand standen, um ihren jubelnden Landsleuten zuzujubeln, war ansteckend.
Goeben- Höhe Bülowstraße
Samstag, 21.06.08
Die SPD nun wieder …
Niederlande – Russland. Russland gewinnt im Elfmeterschießen. Andrei Sergejewitsch Arshawin macht ein Superspiel.
In den letzten Tagen war Klage, das Blog von Rainald Goetz, plötzlich sehr bunt geworden. Erst hatte nur am aktuellen Tag eine rote Einladung gestanden. Dann hatte der Schriftsteller immer mehr Tageseinträgen eine Einladung in unterschiedlichen Farben beigefügt. Nun fand der Blog von Rainald Goetz nach fast anderthalb Jahren ein Ende. Die Einladung zum Abschied war eine schöne Geste an die, die sich die Mühe gemacht hatten, den Dichter in seinen Gedanken zu begleiten.
Das Fest im Atelier der Künstlerin Anne Neukamp hatte begonnen, während das EM-Spiel zwischen Russland und den Niederlanden noch lief. So war die kurze Textaktion schon zu Ende, als ich das Atelier im vierten Stock eines Gebäudes in der Oranienstraße betrat.
Alles war supervoll und schwül in dem Raum, so dass man gleich anfing zu schwitzen. Alles sei völlig chaotisch und großartig gewesen, berichtete C. Rainald Goetz hätte nach einleitenden Sätzen, in denen er das Internet gefeiert habe, Positionen klargemacht. Er hätte sich gegen Benjamin von Stuckrad-Barre, den ehemaligen taz-Autor und jetzigen BZ-Schreiber, gewandt, der neulich im Cicero über die taz hergezogen war und den Goetz früher sehr mochte.
Dann sei es um einen Satz von Frank Schirrmacher gegangen, in dem der Dichter all das versammelt gefunden hatte, wogegen sich sein ganzes Schreiben und Sein richte. Eine furchtbare Feistheit des Denkens.
Die Musik war sehr schön und aus unterschiedlichen Zeiten. Die Stimmung war superangenehm. Die einen kamen wohl vom Schreiben, die anderen vom Lesen. Julia Schulz und Georg Nolte legten die Musik auf und warfen manchmal ihre Arme in die Luft. Wir tanzten zu David Bowies Let’s Dance, und Rainald Goetz sagte, er hätte Bowie erst durch diese, von Puristen gehassten Platte, toll gefunden, und ich erzählte, wie ich damals auf drei Konzerten der Let’s Dance-Tournee gewesen war.
Wir dachten zurück an Klage. Klage war ja immer auch der Einspruch gewesen; die Klage der Wirklichkeit gegen die Literatur, also Maxim Biller, dessen Fall eines der großen Themen des Blogs gewesen war, die Klage, die Rainald Goetz gegen seine Telefongesellschaft geführt hatte; die Klage der Trauer über die Welt und den Tod. Als Klage begonnen hatte, hatte es zunächst richtige Anfeindungen gegeben, weil der Blog auf den Seiten von Vanity Fair erschien und alle die Zeitschrift doof fanden. Später hatte Rainald Goetz sich warmgeschrieben und alle waren plötzlich zu Klage-Fans geworden. Es hatte die großen Wutausbrüche – gegen die Familienministerin – gegeben, viel Fragmentarisches, Gedichte immer wieder, kleine und große Rezensionen von Büchern und Ausstellungen, immer wieder war es um das Schreiben, um Text und Wirklichkeit gegangen. Lustige Trottel wie Qualli waren des Wegs gekommen. Rausch- und Rauchverbote und das Plusquamperfekt waren thematisiert worden. Manche Passagen waren offene Zwiegespräche mit anderen Autoren gewesen.
Der Dichterfreund trug Jeans und ein prima Jackett. Er schwitzte und war wohl glücklich. So viele Zeiten gingen durcheinander, weil man einander ja auch schon so lange kennt. Irgendwann war er verschwunden, und die Oranienstraße sah wunderschön aus in der Morgendämmerung.
»Don’t work – cry«
Sonntag, 22.06.08
Früher war Z. Popstar
Heute eigentlich immer noch.
Wir guckten auf dem Beachvolleyballgelände an der Möckernstraße. Das Wetterleuchten war sehr schön. Und als es dann gewitterte, war das Bild immer wieder eingefroren, so dass es aussah, wie die Bilder von der Internetübertragung der ersten Big-Brother-Staffel.
Spanien, Italien!
4:2 n.V.
klatschnass
Dienstag, 24.06.08
Mittwoch, 25.06.08
Man stimmt sich so ein auf das Halbfinale zweier Heimmannschaften: Deutschland – Türkei.
Auf der Rudi Dutschke Straße, gegenüber der taz, liefen sechs oder sieben kleine Kinder entlang und sangen mit ihren hellen Stimmen: »Deutschlaand, Deutschlaand, Deutschlaand, Deutschlaand … « Kleine Berlinerinnen in unterschiedlichen Hautfarben; die meisten von ihren kaffeebraun. »Deutschlaaand« klingt natürlich melodischer als »Deutschland«.
An dem einen Auto waren sechs Deutschlandfähnchen befestigt. Ein Mädchen trug eine Deutschlandblumengirlande um den Hals, auf dem Kopf so einen weissen Türkei-Hut und ein dezentes Deutschlandtrikot. Auf den Straßen hört man immer wieder Kinder und Jugendliche »Deutschland« oder »Türkye« rufen. Der Migrantenanteil unter den Deutschlandfans ist zumindest in Kreuzberg recht groß. Am hübschesten sehen die türkischen Mädchen in ihren Türkeitrikots aus. Die meisten Hiphopper scheinen für Team Deutschland zu sein. Bei der Abschiedsparty von Daniel Haufler, eines sehr netten und klugen Kollegen, gestern abend in der taz, waren die männlichen Kollegen überraschend entschieden für Deutschland.
J. sagte, sie wäre noch völlig kaputt und erledigt von gestern. Obgleich sie gar keine Drogen genommen habe. – »Aber die Leute um dich rum waren alle wieder auf e, speed, Drei-Tage-wach usw. oder?« – »Ja.«
Und das hat sich dann wohl übertragen.
Kannst du bitte noch ein Bier für mich trinken; ich hab Durst.
Ich bin grad so aufgeregt; ach bitte kiff doch noch einen für mich.
J. leuchtete das alles wieder ein.
Und G., die Lehrerin, hatte davon erzählt, wie sie in ihrer Schule diese Länderflaggen verbieten mussten, weil es deshalb immer Streit gegeben hatte.
Mir selber fiel es immer schwer, von dem Fußball wieder runterzukommen, ich vernachlässigte Dinge, die auch wichtig gewesen wären.
Wie wir als Kinder Fußball geguckt hatten. Kein Spiel verpassen wollten. Die Eltern hatten sich nicht dafür interessiert; als Fußballgucker waren wir in der Minderheit. Es war unser Ding sozusagen. Zwei Jungs saßen zusammen und guckten Fußball. Es ist Sommer. Die besten Freunde sitzen zusammen und gucken Fußball. Das Leben ist schön.
Wir guckten immer zu zweit.
Es guckten nur wenige in der Klasse.
Fußball galt noch nicht soviel.
Am Anfang war Fußball noch eine einsame Leidenschaft.
Ich bin das Gegenteil von gleichgültig und in einer Weise für beide, die mich furchtbar nervös macht. Es sei ein Zeichen von »Ich-Schwäche«, wenn man gleichzeitig für Beide sei, hatte B. gestern behauptet. Irgendwie müsste es doch ein positiveres Wort für »Ich-Schwäche« geben. Der eine hat halt ein kleines, schmales, der andere ein großes, dickes Ich.
Ein Szenario kann sein: nach einer Viertelstunde unterstütze ich dann doch die Unsrigen wieder mehr als Türkye; ein anderes Szenario, noch wahrscheinlicher im Grunde genommen, erfahrungsgemäß; nach dem 1:0 für die Unsrigen unterstütze ich die Türkei. Eigentlich bin ich fast immer für die, die zurückliegen und beim Elfmeterschießen träume ich immer davon, dass es endlos so weiter geht. (Außer wenn Schalke spielt.)
O., der 1987 aus Istanbul nach Berlin kam um bei Hertha zu spielen und jetzt irgendwie bei Türkiyemspor arbeitet, erzählte mehrmals vom Krieg der Marken im Fussball und wie toll er es fand, dass der tschechische Torwart als einziger Spieler im gesamten Turnier beim Spiel Türkei – Tschechien ein eigenes Trikot trug mit türkischer und tschechischer Fahne, statt Logo-Dominanz. Man könnte doch auch Extra-Trikots für alle Spielbegegnungen machen lassen- wie die Fussbälle selber, da wäre ja auch das Datum nebst, Ort und Fahnen beider Mannschaften draufgedruckt. Er sagte auch, es würden nie zwei Mannschaften bei wichtigen internationalen Turnieren mit selbem Hauptsponsor gegeneinander antreten, das solle ich mal beobachten …
Tiger würde nie sagen, die Deutschen hätten durch Glück gewonnen. Weil das Glück ja immer Teil ist des Spiels auch; der Mehrwert. Ohne das Glück, mit dem manchmal der Enthusiasmus beschenkt wird, wäre Fussball völlig sinnlos, eine traurige Angelegenheit. Er erzählt das Spiel mit seinen Emotionen nach. Die engagierte Nacherzählung ist seine Methode, mit der Enttäuschung fertig zu werden. Noch einmal, in drei Minuten, das ganze Spiel mit seinen Auf und abs.
Sie hatten sich mit ihren schönen Trikots fein gemacht und sahen gut aus. Das Rot passte sehr schön zum Farbton der Haut, dem Rot der Lippen und in diesen Sommerabend. Viele türkische Mädchen sahen so schön aus wie Edelsteine.
In der Halbzeit vor dem Lokal von Türkyemspor. Auf der Adalbertstraße fand ein Fußballfest statt. Schnell hatte man T-Shirts herstellen lassen; die deutsche und die türkische Fahne in einem Herzen vereint. Darunter der Schriftzug: »Freundschaft muss bleiben«. Alle feierten die türkische Mannschaft. Ein kleiner türkischer Junge auf der Schulter seines Vaters trug ein Deutschlandtrikot und rief immer wieder: »Deutschland, Deutschland«. Christian Ströbele stand in der Nähe der Bühne und gab Interviews.
Für mich war das Spiel auch ein Lokalderby. Meinem Kreuzberger Herzen war die türkische Mannschaft näher als die deutsche. Das hatte auch deutsche Gründe sozusagen – vor fünf Jahren hatte Hamit Altintop für Schalke zwei Tore gegen Dortmund geschossen. Seitdem bin ich ja Altintop-Fan. Dies für-das-türkische-Team-sein hatte sich während des Spiels (im Hexenkessel des Türkyemspor-Vereinslokals) verstärkt, ohne dass ich gegen die deutsche Mannschaft gewesen wäre. (die deutsche Mannschaft, die auch die Migranten repräsentiert, ist ja okay; obgleich sie mir irgendwie zu vernünftig vorkommt)
Nach dem 2:1 verließ ich das Lokal; ging bisschen herum, setzte mich dann vor ein anderes und sah durch das Fenster hindurch; erst das 2:2 und dann das Siegtor der Unsrigen.
Es gab umsonst Schnaps. Die Menschen lächelten. Das Spiel war zu Ende.
Mir gegenüber saß ein Pärchen in türkischen Trikots. Ich sagte »schade«. Sie sagten »Wieso? Ist doch ein gutes Spiel gewesen.«
Es war ja auch ein gutes Spiel, es war ein supergutes Spiel, über dass ich eigentlich wenig sagen kann, weil ich ja so sehr im Augenblick, in der Emotion war, als ich es geguckt hatte. …
Dies Irre dann auch, wie so Viele nach ein paar Minuten des Traurigseins, dann angefangen hatten, »Deutschland« zu rufen.
Völlig geplättet und erledigt guckte ich manchmal Leute an und sagte Sachen wie: »War ein super Spiel, nicht?«
In der Nacht tanzte Oflu auf der Bühne und schwenkte dabei eine türkische und eine deutsche Fahne. In der einen Hand die türkische, in der anderen Hand die deutsche Fahne. Er war der Star des Abends. Vor ihm tanzten vielleicht zehn, zwanzig Leute.
Vom Landwehrkanal her kam eine Gruppe deutscher Deutschlandfans, die mit agressivem Unterton, wie es mir vorkam, »Deutschland, Deutschland« riefen; eine Gruppe türkischer Fans mit Deutschlandfahnen ging ihnen entgegen. Dann vermischten sie sich tatsächlich.
Das Fest war nun schon fast zu Ende. Auf der Bühne stand ein Mann und hielt eine Dankesrede: »Ich möchte der Berliner Polizei danken. Besonders dem Abschnitt 53. Dankeschön Abschnitt 53!«
Über ihm die Leinwand mit stummen Bildern. Es gab nur noch Untertitel. »… Aber Deutschland ist meine Heimat. ich bin hier zu Hause«, sagte ein Untertitel, als ich ging.
Und ich dachte an 1990; an die Deutschlandfans damals am Ku’damm und wie sie »Deutschland den Deutschen« gegrölt hatten.
Sonntag, 29.06.08
Man fühlt sich wie vor der Love-Parade. Es ist ja der gleiche Ort. Ich telefoniere mit G. Er sagte, er sei gerade in Paris. Und dort auf der Suche nach irgendeinem Ort, an dem das Spiel gezeigt wird. In Paris interessiere sich niemand für das Endspiel. Es sei zum Verzweifeln.
Der Einpeitscher ruft: »Hallo Coca Cola-Fan-Meile – Ich hab ein gutes Gefühl.« Es gibt Kirmes-Techno mit Texten oder Post-Tote-Hosen-Jungsrockmusik von einer Band namens »Die Fraktion«, die es sich zum Ziel gemacht hat, den längsten Fußballfansong aller Zeiten zu machen. Um dies Ziel zu erreichen, sollen Leute ihre Vierzeiler per SMS schicken. Die Kurzversion von »Schwarz-Rot-Gold« ist vielleicht drei Minuten lang und wird jede Stunde einmal gespielt. In drei Stunden treffe ich drei Leute, die für Spanien sind.
Immer wieder ruft der Zeremonienmeister: »Willkommen auf der Fan-Meile 2008.«
Die Menschen sollen in einen Gleichklang gebracht werden. Sie sollen ihre Individualität aufgeben, irgendwie in der Menge aufgehen; das erinnert auch an die Loveparade. Hier sind es aber nicht hundert Trucks mit unterschiedlicher Musik, sondern es gibt die ganze Zeit über eine Zentralbeschallung. Und es gibt ja das Spiel, für das die Menschen in den richtigen Zustand hineingebracht werden sollen. Damit sie, wenn sie in dem richtigen Zustand sind, zusammen mit der Mannschaft, von der sie sich repräsentiert sehen wollen, Europameister werden.
Ich sitze im Tiergarten. Im Hintergrund Polizeisirenen. Da und dort klettern Menschen über die Absperrgitter oder unten durch, um auf die andere Seite zu kommen, auf der es auch nicht besser sein wird. Manche beeilen sich dabei so sehr, dass die Flaschen, die sie dabeihaben, zerbrechen.
Einer wirft eine Plastikflasche mit Bierflaschen über den Zaun. Die Flaschen zerbrechen. Er klettert, fast panisch schnell, über den Zaun und rennt ganz schnell dann Richtung Fan-Meile.
Einer der vielleicht zwei Meter hohen Zäune bricht zusammen. Menschen rennen hindurch. Manchmal wird jemand von Ordnern verfolgt. Die Polizisten in einem dumpfen Schwarz; wie die Autonomen früher.
Ein Mann im Kuranyi-Trikot singt: »Ganz schön wenig Deutsche hier, schalalalala; ganz schön wenig Deutsche hier, schalalalala!« Ein Deutschlandfan mit asiatischen Gesichtszügen sagt: »Das ist auch mein Finale«.
Auf der Wiese im Tiergarten sitzen acht Jugendliche in der Sonne und kiffen. Sie sind höchstens zwanzig und in Deutschlandfahnen gehüllt. Die Jungs haben Tyson-Schnitt und sehen bißchen türkisch aus. Eine Gruppe Jugendlicher im gleichen Alter, ähnlich gekleidet, gleicher Haarschnitt, nur deutsch, bleibt bei ihnen stehen. Der Anführer der Gruppe fragt: »Kifft ihr?«
Die Sitzenden sind unsicher, was sie antworten sollen.
Dann ruft der Anführer der Stehenden laut: »Hey, hey, hey – wer nicht kifft, der ist kein Deutscher; hey, hey, hey – wer nicht kifft, der ist kein Deutscher!« Er tanzt dabei provozierend herum und führt einen Indianertanz auf.
Einer aus der Gruppe der Sitzenden, der Anführer der Sitzenden, steht auf und singt, zunächst etwas unsicher, mit. Er hat einen türkischen (oder: Kreuzberger-) Akzent. So tanzen die beiden einen Moment lang; dann ziehen die deutschen Jugendlichen ziehen weiter.
Die türkischen Deutschen sitzen noch ein bisschen. Und trennen sich dann. Erst gehen die einen, dann die anderen. Als die letzten zwei von ihnen weggehen, verliert einer eine deutsche Fahne. Er blickt sich um und sammelt sie wieder auf. Geht weiter. Dann verliert er sie wieder; guckt, zögert und läßt sie diesmal liegen.
Macht ja nichts. Er hat ja noch die Fahne, in die er eingehüllt ist. Was sollen sie mit einer dritten Fahne.
Die Fanmeile ist nicht so meins.
Ich guck das Spiel dann doch lieber in Kreuzberg, bei Türkyemspor.
© Alle Fotos: Detlef Kuhlbrodt