Umsonst & draußen ist ein Fototagebuch, das wie das gleichnamige Buch Anfang 2006 beginnt. Das Material stammt größtenteils aus dem Blog november07, den Detlef Kuhlbrodt ab Ende 2006 und bis Herbst 2013 für die taz gemacht und für das Logbuch noch einmal durchgesehen, an einigen Stellen gekürzt und an anderen erweitert hat, um das Erzählerische zu betonen. Eigentlich ist Umsonst & draußen eher Fotogeschichte als Tagebuch; die Aufnahmen sind die Umgebung einer nicht erzählten Geschichte. Kuhlbrodt ist losgegangen auf der Suche nach Bildern, die irgendwie zueinanderpassen und dem Tag ein Gesicht geben. Manchmal sind die Helden Fahrräder, manchmal Autos, manchmal gibt es auch Menschen.
Mittwoch, 06.06.07
Am Morgen ist mein Freund, Kollege, Nachbar Harald Fricke gestorben. Wir hatten uns beim Studium, vor mehr als 20 Jahren, kennengelernt; hatten ungefähr zur gleichen Zeit angefangen, für die taz zu schreiben.
Es war eine lange Zeit.
Andere kamen und gingen, Harald blieb immer oder war immer da.
Er war ein sehr eleganter, kluger, treuer Mensch.
Manchmal hatte ich dies seltsame Bild (von ’96 ungefähr, in der Kulturredaktion) über meinem Schreibtisch, um ihn als Redakteur, um mich zu haben.
Sonntag, 10.06.07
Bad Segeberg. Die Zettel an den Wänden:
»Ich bin liebenswert.
Ich bin lebensfähig
und es gibt Menschen,
die mir helfen!« (lt. Pastorin)
Donnerstag, 21.06.07, der längste Tag
Wie furchtbar schwül es doch in diesen Tagen gewesen war und dann war der schöne Regen gekommen und hatte sich allmählich bis zum Abend gesteigert. Erschöpft nach der Arbeit war ich nach draussen gegangen – ein Spaziergang in der Nachbarschaft – im warmen Regen; immer weiter, bis zum Südstern und wieder zurück; der Regen im Gesicht und nasse Haare. Die Gedanken im Kopf zogen sich zurück. So halb durchnässt dann und irgendwie stolz darauf im Zigarettenladen.
Der kleine Sohn des Händlers legte mir meine Sorte dahin und ich das Geld. Auf dem Tresen lag »Ziggy« und ich dachte an die Ché-Zigaretten, den Ché-Energydrink (»The Revolution of Energy«), die Rudi Dutschke- und die Frank Zappa-Straße, die demnächst in Marzahn eingeweiht werden wird.
Es war Fète de la Musique und ich hatte eigentlich irgendwohin, zu irgendeiner Party am Nachmittag gehen wollen. Durch’s Fenster kam der Krach einer schlechten Rockband in der Nähe, die gegen den Regen ankämpfte, der immer stärker geworden war.
Eine Proberunde draussen mit Schirm; Hose und Schuhe durchnässt; mit dem Rad zu fahren ging gar nicht, mit der U-Bahn keine Lust und zu Fuß bis zu dem kleinen Techno Open-Air an der Schillingbrücke (wo ich jedes Jahr gewesen war), hatte auch keinen Sinn, weil es viel zu weit war. Die, die auf der Straße waren, lächelten alle irgendwie einander zu; ganz superkurz.
Ich wartete auf das Ende des Regens. Im Fernsehen, auf Phoenix, stolperte ich über eine Guido-Knopp-Doku über die RAF. Die Terroristin, die da auf dem Boden lag, in der entführten »Landshut«, nach der Erstürmung durch die GSG9, trug ein schönes Ché Guevara-T-Shirt.
Dann war der Regen weniger geworden.
Mit nassem Gesicht auf dem Fahrrad.
Auch der neue Dynamo streikte im Regen.
Regen im Sommer am Abend ist mein Lieblingswetter.
Es ist angenehm, nachzudenken, während man fährt.
Von weitem kam die Musik näher (wie in der Hundegeschichte von Kafka); ein kleiner Rave an der Schilling-Brücke; paar Zelte, paar Leute, die im Schlamm tanzten, sich darin wälzten.
Wie vor dreißig Jahren bei diesem riesigen Umsonst & Draußen-Festival in Vlotho; dem Höhepunkt der westdeutschen Hippiekultur, die damals Woodstock im Schlamm zitiert hatte. Die Regen in den Sommern der Jugend.
Keine Ahnung, ob grade Gianni Vitiello oder Mary Jane auflegte; das Bezirksamt verlangte ein Ende; die letzte Platte: »Superman« von Laurie Anderson.
Samstag, 23.06.07
Segeberger Zeitung
Das Café Koma war ziemlich leer. Vor fünfzehn oder zwanzig Jahren zuletzt hier gewesen. Es war schon ganz schön düster aber ja auch früher Nachmittag.
Die Einrichtung hatte sich nicht verändert. Es lief glaube ich auch noch immer die gleiche Musik. Drei Leute am Tresen redeten bodenständig mit schleswig-holsteinischem Akzent.
Es ging wohl darum, dass der eine eigentlich ein ganz lieber wäre, nur eben, wenn man ihn provoziere; das die andere schon damals viel vom Leben kannte. Da warst du achtundzwanzig und ja auch immer viel in Kneipen gewesen und mein Freund »der braucht nur einmal zu gucken. Der weiss dann sofort, dass ich besoffen bin.«
Die Psychiatrie im schleswig-holsteinischen Rickling ist wie ein Dorf im Dorf. Als Kinder waren wir hier manchmal zu Weihnachten hingefahren, um vor den Patienten zu singen. Eigentlich hatte mich meine große Schwester mitgenommen, die in einer »Rickling-Gruppe« war.
Es gab rote und weiße Seerosen und manchmal sah man auch Fische.
Keramikarbeiten von Patienten.
»Arznei macht frei«
Und dieser Mann auf der Terasse der Gerontopsychiatrie sagte immer, alles sei großartig hier. Noch nie wäre er an einem Ort gewesen, wo er sich so wohl gefühlt hätte. Auch die Medikamente: »großartig, einsame Spitze«.
Eigentlich sah der Aschenbecher so aus.
Und so hätte er in einem anderen Film ausgesehen.
Keine Ahnung, warum das Haus so verärgert guckte.
Fast den gleichen Sonnenuntergang hatte es gestern abend in den Tagesthemen gegeben.
Sonntag, 24.06.07, Inventur
Da war ich wohl 12 gewesen; komisch.
38 Jahre hatte mein Vater die Zeitschrift Hobby gelesen. 1991 war sie dann eingestellt worden.
Rickling, Klinikgelände
Kurz vor Hamburg.
Der Zug hatte Verspätung und beeilte sich nicht.
Rauchen vor dem Hamburger Hauptbahnhof. Ein grauer Abend. Ich guckte zu dieser Kunsthalle da hin, dachte an Daniel Richter, fand dies trostlos, grau, Nasswindige ganz schön, auch wenn es mich nervte, hier noch eine Stunde herumhängen zu müssen.
Irgendwelche Leute, paarweise oder einzeln, waren zu dem Aschenbecher gekommen, hatten kurz abgeascht oder die Zigarette ausgedrückt und waren dann unschlüssig ein bißchen geblieben; manche fast völlig lächerlich korrekt in albernen Kostümen oder Anzügen.
Ein Mann mit gehetzten blauen Augen – Jeans, kariertes Hemd, ein wenig geduckt, helle, halblange, glatte Haare, umkreiste kurz den Aschenbecher, an dem ich stand und untersuchte ihn dann nach rauchbaren Resten. Gierig steckte er sich einen Stummel an und zwei oder drei in seine Hemdtasche. Ich guckte schon halb weg aus Scham, als er den den darunter liegenden Papierkorb durchwühlte und die Sachen, die er fand, sofort aß.
Als Reporter hätte ich mein superkleines Aufnahmegerät anschalten und mit ihm reden können; eine Unterhaltung anknüpfen; ihn dann auf einer ganzen Zeitungsseite unter Verwendung von möglichst viel O-Ton porträtieren können.
Aber ich hatte keine Lust, Reporter zu sein, sondern registrierte es nur und dachte nebenbei nur darüber nach, registrierte die Dinge um mich herum fast aufzählerisch, wie der von da nach da lief oder einen komischen Bart hatte, oder auch so offensive T-Shirts, wo draufsteht »Suck my Dick« zum Beispiel getragen von sportlich drahtigen Männern Ende vierzig. Und las dabei das Feuilleton der SZ, irgendeinen angenehm sachlichen Artikel über einen größeren Architekturkongreß der irgednwo stattfand. Restaurationskitsch wider Moderne usw.
Kurz bevor mein Zug fuhr ein Minidrama: eine Frau schimpft im gebrochenen Deutsch (sie ringt um Worte) auf einen dicken Bahnbeamten ein. Wie unmöglich das wäre, dass in dem ganzen (Regionalzug) keine einzige Toilette aufgewesen sei; der Bahnbeamte sagte, doch, dahinten (am äußersten Ende des letzten Waggons vor der Lok) wäre eine gewesen.
Nein das stimme nicht.
Anklagend weist sie auf die nasse Hose eines wohl gehörlosen Mannes in einem sommerlichen Anzug, der entsetzt und wütend klagt.
Der Beamte erwidert irgendwas und geht dann ab.
Verzweifelte, archaische Fluchgesten, begleiten ihn.
Im Zug dann das nächste kleine Drama mit zwei betrunkenen Freunden Anfang vierzig, die total begeistert von einem DJ Bobo-Konzert schwärmten und einen distinguierten, schmalen Kollegen, der irgendwas auf seinem Laptop arbeiten wolte, und ziemlich genervt war von den betrunkenen DJ Bobo-Fans. Er verhielt sich die ganze Zeit aber höflich.
Einer der Beiden hatte keine Fahrkarte. Ihm wurde der Paß abgenommenblieb blieb die ganze Zeit unter Beobachtung und wurde dann in Spandau der Bahnpolizei übergeben. Bis Spandau redete er aufgeputscht und betrunken weiter, bewahrte aber immer eine angenehme Restcontenance sozusagen.
Vor dem Beginn des Ungemachs, das auf ihn wartete.
usw.
Egal.
Donnerstag, 28.06.07
© Alle Fotos: Detlef Kuhlbrodt