Umsonst & draußen ist ein Fototagebuch, das wie das gleichnamige Buch Anfang 2006 beginnt. Das Material stammt größtenteils aus dem Blog november07, den Detlef Kuhlbrodt ab Ende 2006 und bis Herbst 2013 für die taz gemacht und für das Logbuch noch einmal durchgesehen, an einigen Stellen gekürzt und an anderen erweitert hat, um das Erzählerische zu betonen. Eigentlich ist Umsonst & draußen eher Fotogeschichte als Tagebuch; die Aufnahmen sind die Umgebung einer nicht erzählten Geschichte. Kuhlbrodt ist losgegangen auf der Suche nach Bildern, die irgendwie zueinanderpassen und dem Tag ein Gesicht geben. Manchmal sind die Helden Fahrräder, manchmal Autos, manchmal gibt es auch Menschen.
Sonntag, 15.07.07
Natur & Kultur
Landwehrkanal.
beißende Ironie.
Dann war ganz plötzlich das Rouleau heruntergefallen.
Auch das noch!
Macht aber nichts.
»Skulptur kaputt, Skulptur kaputt«
Montag, 16.07.07
Dreifaltigkeitsfriedhof, Bergmannstraße
Dienstag, 18.07.07
Die andere Seite
Auf der anderen Seite des Friedhofs, in der Lilienthalstraße vor allem, aber auch in der Züllichauer, gibt es vielleicht 50 Liebes-Graffitis. Viele kommen noch aus den Neunzigern.
Ich hatte die Wände schon einmal vor sechs Jahren fotografiert.
Weniger als ein Viertel war in den letzten sechs Jahren entstanden.
Alles spricht vom Vergehen.
Dies alles war einmal.
Harry Hass
Harry Hass hatte im Max & Moritz gelesen. Der legendäre Beatnik-Schriftsteller tritt nur alle paar Jahre mal auf.
Es war eine tolle Veranstaltung!
Haschrauch lag in der Luft, Harry trank Cola-Rum (doppelt) und schrieb Autogramme.
Ich hatte ihn in den 80ern als großartigen Barkeeper der legendären Kreuzberger Kneipe Ex’n’Pop kennengelernt. Als ich 1984 nach Berlin gekommen war, war er ein Star. Ein echter drogensüchtiger Beatnikschriftsteller, der nach seinen Schichten, die bis in den frühen Morgen gingen, in Hinterhauswohnungen an seinen Sachen schrieb. Während man selber zur Uni ging, mit der Szene durch Freunde verbunden, komplett schüchtern; Harry Hass hatte ich als Legende kennengelernt, ein Berliner William S. Burroughs, den ich wiederum mit 17 bewundert hatte; Harry Hass war also jemand, der die Träume lebte, die man vom Schriftstellerleben hatte, als man Teenager war.
Er ist ein großer Schriftsteller ohne viel Bücher. Es gibt den einen Roman – Koko Metaller (Maas Verlag, 1992) und ein paar Beiträge in Anthologien, aber auf den richtig großen Roman warten alle noch.
Wenn er liest (und er liest immer supergut), denkt man immer, dass er ihn schreiben könnte. Es gibt wahnsinnig viel Material, aber er hat das eben noch nicht richtig zusammengefügt. Oder vielleicht ist es im Kopf ja eigentlich schon fertig und Lustlosigkeit lähmt ihn, wenn er versucht, das, was im Kopf schon fertig ist, auf’s Papier raufzutun und er schreibt dann wieder lieber was Neues und verzettelt sich.
Es gibt ja Schriftsteller, die als Person auf der Bühne, wenn sie lesen, oder im Gespräch völlig unüberzeugend und banal wirken, aber fünf tolle dicke Romane kann man kaufen und andere, wie Harry, die auf der Bühne (oder auch als Schauspieler) klasse sind, aber nur wenig veröffentlicht haben.
Als die Lesung schon zu Ende war, kam Françoise Cactus (Lolitas! Stereo Total!) noch vorbei und begrüßte den alten Freund.
Sie war auf einer Jungle World-Veranstaltung gewesen, die zur gleichen Zeit stattgefunden hatte und auf der es um oder gegen Anti-Dealer-Hetze o.ä. gegangen war. Jemand sagte, der Titel jener Veranstaltung wäre »Respect your local Dealer« gewesen. Aber vielleicht stimmt das auch gar nicht.
Donnerstag, 19.07.07
Gegen Mittag ist Harald Fricke begraben worden. Am Abend hatte es eine Gedenkveranstaltung unserer Zeitung für Harald im Cafés des HAU gegeben. Dirk hatte über Textstrategien von Harald gesprochen, das Verschwinden des Ichs in Texten; den Versuch perfekte Textwaren zu schaffen (wenn ich’s richtig noch im Kopf hab), Wolfgang Müller hatte ein Lied gesungen, Cristina hatte über Haralds Lächeln gesprochen, Elke Schmitter hatte gesagt, sie hätte Harald damals als »Schweifenden« wahrgenommen, Cord hatte Passagen aus Kafkas Erzählung »Der Bau« vorgelesen (als Biologe war er sicher, dass der Held der Geschichte kein Maulwurf, sondern ein Dachs ist), Jens Balzer hatte erzählt, wie er Fan von Harald gewesen war, wie sehr ihn Haralds Art zu schreiben beeinflusst hatte, Bascha Mika hatte sich gewundert, dass Harald für sie irgendwie so lange als Person unsichtbar gewesen wäre.
Ich hatte auch etwas vorgelesen:
Wir kamen beide aus Schleswig-Holstein und hatten uns beim Studium, vor mehr als 20 Jahren, kennengelernt; an der FU, am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und bei den Philosophen. Als drittes Fach hatte Harald Publizistik studiert.
Es war wohl so, dass wir uns über Musik befreundet hatten.
Wir hatten zu den paar Leuten am Institut gehört, für die Popmusik eine existenzielle Dimension hatte.
Wir hatten uns als Bowie-Fans kennengelernt, glaube ich.
Wir hatten viele Seminare gemeinsam besucht und die gleichen intellektuellen Helden gehabt
Neulich hatte ein älterer Ex-taz-Freund erzählt, dass sie – also die linke Generation derer, die jetzt über 50 ist – eigentlich kaum was in der Uni, sondern eher Politik gemacht hatten.
Wir waren da anders; hatten enthusiastisch und nicht wirklich zielgerichtet – im Sinne toller Noten – studiert, wenig geschlafen und unheimlich viel gelesen. Wir folgten diesem Rainald-Goetz-Rigorismus. Besonders Harald, der gleichzeitig auch noch Musik gemacht hatte.
Wir kauften neue Bücher von Foucault, Deleuze etc. ähnlich begeistert, wie Plattenfans Platten. Und irgendwie lasen wir die Bücher auch ähnlich, wie man neue, langerwartete Platten hörte.
In den Jacketts hatten wir die halbe Merve-Bibliothek. Die Unterhaltungen über Bücher waren oft so ähnlich, wie man sich über Platten unterhält, die man kennt. Das heisst, man referierte nicht den Inhalt, sondern der eine sagte meinetwegen: »Foucault«, der andere entgegnete: »Heidegger!« Mit Ausrufezeichen. Oder: »Bataille!!« Mit zwei Ausrufezeichen. So ungefähr. Weil man davon ausging, dass der andere das in seinem Kopf auch so genau gespeichert hatte, wie ein tolles Stück auf einer Lieblingplatte. Deshalb brauchte man Vieles nicht extra erklären. Klar, dass das auch manchmal zu Missverständnissen führte.
Harald gehörte zu denen, die sich regelrecht in Autoren, Schriftsteller, Intellektuelle verliebten. Damals. Er liebte Lyotard und Deleuze. Irgendwie hatte er auch einen Narren an Adorno gefressen. Oder Bataille. Oder Heidegger. Oder Michel Butor, dessen düster-existenzialistischen Roman »Der Zeitplan« (1956) wir beide super fanden.
Total begeistert war er von der kleinen Erzählung »Der Knacks« von F. Scott Fitzgerald gewesen. Das Buch war bei Merve erschienen mit einem tollen Aufsatz von Gilles Deleuze.
Wir kannten diesen haarfeinen Sprung in der Schüssel, der dafür sorgte, dass wir nicht so entspannt und locker waren; dies irgendwas-ist-geschehen, irgendwann und hat einen ein bisschen komisch gemacht. Damit und dagegen hat man dann gearbeitet.
Er war damals oft mimosenhaft und konnte in dieser Zeit lange darüber reden, dass ihn dieser oder jene nicht gegrüßt hatten und später kam dann raus, dass diese oder jene eben kurzsichtig gewesen waren und aus Eitelkeit keine Brille trugen und dass sie sich ihrerseits auch gewundert hatten, warum Harald sie nicht gegrüßt hatte.
Er hatte große Scheu davor, etwas zu sagen und beteiligte sich gern in Seminaren. Oft uferten seine Beiträge aus, und man verstand dann nicht mehr, was er meinte.
Das war manchmal auch in seinen frühen Texten so, die oft bisschen zu theoretisch waren, wobei Freunde mir erzählten, sie hätten die frühen Texte von Harald total geliebt, weil es ihnen schwer fiel, sie zu verstehen und weil sie seinen Sound gerne mochten.
Gleichzeitig hatte er auch eine sehr bodenständige Seite. Wenn er morgens um elf, als erster in die AVL-Bibliothek reinkam, hatte er meist mit »Mojn, mojn« gegrüßt.
Solche Regionalismen galten damals als unschick. Manchmal hatten wir uns auch auf kielerisch unterhalten.
Er konnte auch unglaublich lustige Gesichter machen. Er hatte so eine Otto-Seite, die auf fast allen Fotos drauf ist. Fast immer, wenn man ihn fotografierte, machte er ein funny face.
Manchmal flipperten wir im Ex’n’Pop (am »Truck Stop«) und tranken Havanna-Club-Lime-Juice. Oder wir spielten Billard. Er war ein ziemlich guter Billardspieler. Manchmal gingen wir auch zu Blau-Weiss 90 in’s gewöhnlich entsetzlich leere Olympiastadion. Weil der zeitweilige zweite Berliner Bundesligaverein auch meist verlor, wollte er das irgendwann nicht mehr. Weil ihn das das ganze Wochenende fertig machte.
Ich hatte Ende der 80er, ein Jahr früher als er, angefangen, für die Berlin-Kultur und den Berliner Veranstaltungsteil der taz zu schreiben und hatte in meiner Anfangseuphorie, auf ihn eingeredet, doch auch hinzugehen, Artikel zu schreiben, »die sind auch ganz prima.« Und die aus der Berlin-Kultur wären auch nicht so spießig wie die anderen.
Auch er hatte anfangs oft kleine 80-Zeiler wieder und wieder überarbeiten müssen, bis sie dann die Gnade der gestrengen Gabriele Riedle gefunden hatten, die von Popmusik keine Ahnung hatte, aber eine ziemlich gute Redakteurin war.
Heimischer hatte er sich anfangs im Veranstaltungsteil, dem dritten Kulturteil der taz sozusagen, gefühlt; bei Tommi Winkler, Claudia Wahjudi und Marly Riemer.
Während ich mich Anfang der 90er nach taz-internen »Verwerfungen« , wie man so schön sagt, etwas zurückzog, blieb er dabei, hielt sozusagen die Stellung. Ich wechselte dann später als Gasthörer zu Techno, fühlte mich ständig dissidentisch im taz-Umfeld und fand das Verpeiltsein auch schreibend interessant; er war in der Redaktion und hatte mich in meiner Technoeuphorie mit tollen Technoliedern unterstützt und fand es prima, wenn ich vertrahlt bei ihm vorbeischaute.
Irgendwann vor zehn oder elf Jahren hatten wir dann in der Kochstraße gestanden und er hatte gesagt: irgendwie supernett und zugleich ironisch »nun bist du Raver. Nun hast du eine Identität«.
Eine Identität zu haben, war in unserer damaligen Vorstellung der Anfang vom Ende und unbedingt abzulehnen. Ich hatte – leicht beleidigt – geantwortet, dass ich da durchaus Distanz hätte und nicht das Bedürfnis mit Mitte dreissig Teil einer Jugendbewegung sein zu wollen. Aber irgendwie hatte er auch nicht unrecht gehabt; eine Zeitlang war Techno die Erfüllung meiner Hippieträume gewesen und das soziale System, in dem er sich aufrieb, fand ich doof. Während ich – in der kurzen Zeit, in der ich auch in der Redaktion arbeitete – vor allem das dysfunktionale Soziale sah, aus dem ich dann wieder rausging, ging es ihm glaube ich um den Erhalt der Familie, der Redaktion als Band, der er sich – right or wrong – zugehörig fühlte. Während ich mich sozusagen als freiflottierrender Autor fühlte und nur meinen Texten verpflichtet, fühlte er sich der Kunst verpflichtet, im Dienste der Kunst und der Künstler, über die er schrieb.
1998, mit Katrin Schings und Thomas Gross
Manchmal, bei Berlin-Kultur-Autorentreffen, hatte er mir so halbironisch, halbernst vorgeworfen, dass ich ihn zur taz gebracht hatte.
Erst später fiel mir ein, dass er mich damit glaube ich, lobend bei Leuten, die mich nicht kannten (ich war damals nur selten in der taz), vorstellen wollte.
Er war Melancholiker, ohne sentimental gewesen zu sein. (»Melancholiker« ist nicht ganz richtig; »Pessimist« auch nicht ganz) Die Forderungen, die er an sich stellte, waren brutal. Man besuchte ihn abends und er sagte, jetzt ginge es überhaupt nicht, er müsse noch sechshundert Seiten lesen und einen Text über das Gelesene schreiben.
Er hatte daran gelitten; dass es so furchtbar viele Idioten gerade in den Bereichen gab, die ihm selber am Herzen lagen; wieviel Mist und Schwachsinn geschrieben wird; dass die größten Idioten oft die Durchsetzungsstärksten waren
Die entschlossenen Aufsteiger, die schnell ihren Weg gingen, waren ihm eher unheimlich als unsympathisch.
Wenn er klagte, dann nicht so sehr über den allgemeinen Zustand der Welt, sondern über die konkreten Verhältnisse, in denen wir gefangen waren; wenn er sich ärgerte, dann über konkrete schlechte Texte.
Am Ende eines Gesprächs, im April glaube ich, hatte er gesagt: »Wenn ich zurückkomme, werden Köpfe rollen« und dazu ein Funny Face gemacht.
Die Freunde, die Leute, die er mochte, denen er sich verbunden fühlte, auch wenn er manche von ihnen nur selten sah, waren immer präsent in ihm. Es war sehr schön, wie er über die Menschen sprach, die er mochte. Es war sehr schön, mit ihm zusammen in einem Raum zu sein.
Andere kamen und gingen, Harald blieb immer oder war immer da. Er war ein sehr eleganter, kluger, treuer und großzügiger Freund.
Es war eine lange Zeit.
Housemix 89.
Schöne Technomusik, 95.
Bis in den frühen Morgen waren wir noch im Atelier von Daniel Pflumm gewesen. Die Veranstaltung hatte »DJ’s for Harald« geheissen. Harald hatte hier gerne aufgelegt.
Früher hatte Daniel das Electro, dann das Panasonic gemacht.
Manchmal dachte ich an das Risiko.
4:53; die Leute kamen aus dem Club der Visionäre.
Freitag, 20.07.07
Kauft Spielzeuge und Anziehsachen.
Samstag, 28.07.07
© Alle Fotos: Detlef Kuhlbrodt