Umsonst & draußen ist ein Fototagebuch, das wie das gleichnamige Buch Anfang 2006 beginnt. Das Material stammt größtenteils aus dem Blog november07, den Detlef Kuhlbrodt ab Ende 2006 und bis Herbst 2013 für die taz gemacht und für das Logbuch noch einmal durchgesehen, an einigen Stellen gekürzt und an anderen erweitert hat, um das Erzählerische zu betonen. Eigentlich ist Umsonst & draußen eher Fotogeschichte als Tagebuch; die Aufnahmen sind die Umgebung einer nicht erzählten Geschichte. Kuhlbrodt ist losgegangen auf der Suche nach Bildern, die irgendwie zueinanderpassen und dem Tag ein Gesicht geben. Manchmal sind die Helden Fahrräder, manchmal Autos, manchmal gibt es auch Menschen.
Sonntag, 06.01.08
Kaum hatte man sich so einigermaßen an die verträumte Langsamkeit dieser Zeit gewöhnt, ist man schon wieder im neuen Jahr drin. Komisch, wie abrupt diese Jahresübergangszeit endet. B. erzählte, dass sich zwei, mit denen ich in der Schulzeit befreundet war, im letzten Jahr das Leben genommen hatten.
Montag, 07.01.08
Nachdem ich mit B., meinem Busfahrerfreund, bei »Karstadt« was essen gewesen war, wollten wir irgendwo Kaffee trinken und rauchen. Wir suchten vergebens und gingen dann zu ihm in seine Wohnung, als ob wir noch 15 wären. Für unsere Gesprächszwecke gab es grad keinen öffentlichen Ort mehr in der Nähe.
Auf dem Rückweg am späten Nachmittag war ich von Neukölln in meine Gegend gegangen. Ich hatte mein Fahrrad geschoben und in alle Kneipen geguckt, um zu sehen, ob jemand raucht. Es rauchte niemand mehr. Die meisten Kneipen und Cafés waren leer und sahen furchtbar ordentlich und deprimierend aus. Nur in diesem Bierhaus an der Urbanstraße standen die Aschenbecher noch auf den Tischen. Davor saßen Raucher (ich war mir sicher, dass es Raucher waren), aber sie rauchten nicht. Männer über 50, 60, die jahrelang rauchend in dieser Kneipe gesessen hatten, tranken schweigend ihr Bier. Sie rauchten und sie redeten nicht. Wirte, die jahre- oder jahrzehntelang in ihren Kneipen geraucht und gequatscht hatten mit den rauchenden Stammgästen am Tresen, saßen da nun nicht rauchend aus Angst vor petzenden Nichtrauchern. Die Aschenbecher, die noch rumstanden, waren ein Zeichen des Protests, der aber nicht so weit ging, dass sie nun trotzdem geraucht hätten. Oder wahrscheinlich wurde hier erst ab zehn Uhr abends geraucht; wenn die Nichtraucher schon im Bett waren. Nur im »Logo« in der Urbanstraße wurde geraucht, als sei nichts geschehen.
Im Internet nur richtig ekelhafte Anti-Raucherpropaganda; eine Petzerblogleiche von jemandem, der ein paar Monate lang in Kneipen und Cafés gegangen war, um sich darüber zu beschweren, dass draußen am Nebentisch jemand geraucht hatte und solche Sachen.
Laura Ewert hatte in einer Berliner Szene geschrieben: »Im Café wurde nicht mehr geraucht, deswegen roch es wohl nach Parfüm und Kinderkotze.«
Und Rainald Goetz:
»Wenn die Allzuvernünftigen allzu vernünftig und grausam überlegen lächelnd ihre Vernünftigkeitsvorstellungen über den, von ihnen gleich einzurichtenden Vernunftzustand der Welt darzulegen anfangen, fangen die allergrellsten Alarmglocken zu schrillen an, das ist der Kern meines Einwandes gegen eine Figur wie Ursula von der Leyen. Vernunft macht den Einzelnen auch verrückt, weil sie eine Zwangsgewalt ist, die vorgibt, wozu zuzustimmen ist, weil ja einzusehen ist, dass es vernünftig ist. Wenn der Exorzismus der Unvernunft allzu maßlos wird, kommt die Stabilität des gesamten Systems, das seine Ordnung einer Vernunftherrschaft unterstellt hat, in Gefahr. Gesellschaftliche Ordnung muss auch genügend Raum für Unvernunft vorsehen, sonst drehen die Leute an den Rändern durch. Die Prügelausländer sind insofern sozusagen auch Folge des Rauchverbots.«
So ist man dann plötzlich wieder bei Dostojewskis Aufzeichnungen aus dem Untergrund gelandet.
Das Untere ist schöner, aber auch noch nicht optimal.
Mittwoch, 09.01.08
Am nächsten Tag war’s mit dem Rauchen dann doch nicht mehr so schlimm. Es schien nun so, als wenn die bessere Gastronomie die Verbote befolgte, während die normalen Kreuzberger Kneipen sich keinen Deut um die Aufrufe der Zigarettenindustrie zur Gesetzestreue scherten und entschlossen weiter rauchten.
Der lustigste Zigarettenroman Zeno Cosini von Italo Svevo. Die depressivste Kettenraucherzählung heißt Zigaretten und kommt von Einar Schleef.
Als ich morgens vorbeiging, war das nette Auto weg. Ich befürchtete schon, es sei weggebracht worden. Ich hatte aber keinen Fotoapparat dabei, um das zu dokumentieren. Als ich später noch einmal vorbeiging, war alles wie immer.
Hundeausführer
Das Buch in seiner natürlichen Umgebung.
Google-Earth
Donnerstag, 10.01.08
Gehe in den Glascontainer. Begib dich direkt dort hin. Gehe nicht über Los.
Hammerstein von Enzensberger. Das Buch ist sehr interessant und klug. Toll, wie sich der Kreis so schließt. Seine Biografie des spanischen Anarchosyndikalisten Durutti (Der kurze Sommer der Anarchie) hatte ich geliebt. Stilistisch gefiel mir nun, dass irgendwo in fünf Sätzen hintereinander »…, wo … « steht, also dass er es blöde findet, klassischen Stillehren zu folgen.
Irgendwo waren auch Teile einer Rede abgedruckt, die Hitler 1933 vor Generalen gehalten hatte. Ein Absatz dieser Rede hätte auch zu Roland Koch und den aktuellen Diskussionen über ungebildete Migranten gepasst. Als ich diese Hitlerrede las, wurde mir gleich ein bisschen schlecht, ich dachte an A., der als linksradikaler Student in den späten 70ern dauernd Hitlerreden gehört hatte und konnte das wieder überhaupt nicht verstehen.
Freitag, 11.01.08
Danke, lieber Staat!
Die beiden roten Augen.
Blücherplatz
Samstag, 12.01.08
Das Haus des RBB war ziemlich leer vorhin, schön still und so. Alle waren sehr sympathisch. Das Mikrofon verdeckte ein bisschen die Sicht. Ich hatte mich kurz verhaspelt und Sachen vergessen, die ich eigentlich hatte sagen wollen. Live-Interviews sind trotzdem besser, als Email-Interviews, wo man dann tagelang überlegt und sich selber die Antworten schreibt.
Der Taxifahrer war traurig, dass der Staat ihm verboten hat, in seinem Wagen zu rauchen. Im Beton & Garten-Blog gab es heute auch eine kleine Rauchgeschichte mit Sophie Rois, die in der Volksbühne spielte. Vor ein paar Tagen hatte Anke auch darauf hingewiesen, dass die vollständige elektronische Faksimile-Ausgabe von Ernst Haeckels Kunstformen der Natur im Netz steht. Das ist sehr schön an grauen Wochenenden zum Durchblättern.
Volksbühne, Roter Salon, also Wembleystadion mit Jürgen Kuttner.
Im Radio hatte ich noch von einer multimedialeren Veranstaltung erzählt. Dann hatten wir unsere vorherigen, ungefähren Konzepte über den Haufen geworfen.
Perfiderweise waren die Verbotschilder im Roten Salon ganz ansprechend; in irgendeiner 20er-Jahre-Type: »Don’t smoke – it’s against the Law!«
Auf dem Hinweg dachte ich an die sehr schöne Berliner Rauch-Szene, die Anke in ihren Blog geschrieben hatte und überlegte, ob ich sie vorlesen solle. Wir saßen auf der Bühne und überlegten noch, wie wir den Abend gestalten sollten, jemand stand vor der Bühne und sagte etwas. Ich konnte ihn wegen der Scheinwerfer gar nicht erkennen, sondern wusste nur, dass ich ihn kannte.
Der Abend war super und zog wie ein Rausch so vorbei. Manchmal verhaspelte ich mich. Ich nannte den DJ Peter Grummich, dessen Musik im Hintergrund einer Szene eine Rolle spielt, versehentlich Peter Grumnich. Sein Stück Lotus of Ice (von der schönen Platte: The Fake Ringtone Compilation) spielte ich auch nur viel zu kurz an. Eigentlich hatte ich auch noch ein Lied von Patrick Harz, der in einer Szene der Held ist) spielen wollen, aber plötzlich war die Zeit so kurz.
Kuttner liest den Text vor, den ich mal über Daniel Johnston geschrieben hatte, für das Booklet der Daniel Johnston-Platte Why me?; das Konzert, dass er 1999 in der Volksbühne gegeben hatte.
Und später noch den alten SPIEGEL-Text, womit er plötzlich ganz viele präzise wirklichkeits- und lebensgeschichtstheatralische, parallelbiografische Ebenen in die ganze Geschichte brachte. (Wir haben uns kurz nach der Wende kennen gelernt). Kuttner ist schon ein ziemlich guter Theatermann. Und die Handyfotos sind von Uli Rasehorn.
Hehe
Wer die anderen gemacht hat, weiß ich gar nicht mehr.
Sonntag, 13.01.08
Die Raucherecke vor dem Jumps-Sportcenter in Weißensee ist schön und gemütlich. Wir waren ganz begeistert, als wir sie entdeckten. Der schöne Hornbach-Kalender!
Nach dem Sport gehen Bier und Zigaretten zusammen, Hand in Hand. Die ersten Biers als Teenager nach dem Fußball in der »Sportlerklause«. Oldschool sozusagen.
Montag, 14.01.08
Schmöckwitz
Dienstag, 15.01.08
Mittwoch, 16.01.08
In den anderen Jahren hatte es die ersten Frühlingsandeutungen erst während der Berlinale gegeben. Ich schwankte zwischen verschiedenen Texten und wusste nicht, welchen ich zu Ende machen sollte. Als wir nach so langer Zeit, wieder am Flipper standen, hatte A. gesagt, alle Optionen wären gesund und ich solle davon jetzt unbedingt ein Foto machen und das auch ins Netz stellen. Das machte ich aber doch nicht, sondern spielte lieber weiter.
Albert Hoffmann ist am 12.01. 102 geworden. Fiel mir grad ein.
Raucher könnten ja auch immer so eine Tüte mitbringen und den Rauch dann durch einen kleinen Schlauch in diese Tüte pusten. Zum Beispiel.
New Kid on the Block.
Donnerstag, 17.01.08
Datenmüll
Abhöranlagen
Sachlich
Manchmal auch romantisch.
Es stimmte ein bisschen wehmütig, an diesem schönen Nachmittag mit dem Fahrrad von Kreuzberg in den Wedding zu fahren, in die Gegend zwischen Voltastraße, Gesundbrunnen, Humboldthain, wo früher mal die taz gewohnt hatte.
Ende der 80er, Anfang der 90er hatten wir hier jede Woche Fußball gespielt; nun wollte ich den Schriftsteller und Philosophen Giwi Margwelaschwili besuchen, der vor etwas mehr als einem Monat 80 geworden ist und seit sieben Jahren in einer Einzimmerwohnung im fünften Stock eines Hochhauses wohnt, das hier rumsteht. Vor einem Monat hatte ich seinen neuen Roman Officer Pembry gelesen, in dem es, wie in den meisten Büchern Margwelaschwilis, um das teils tödliche Wechselverhältnis zwischen Text und Leser geht; darum, wie der Text, in dem sich der Leser erkannt fühlt, tödlich wirken und was man dagegen kann. Weil mich das Thema selbst viel beschäftigt, hatte ich mir viele Notizen gemacht; und Sätze herausgeschrieben, wie: »Das Fiktionale war schon jeher immer so realbezogen, dass alles Reale, das keiner Fiktion entstammt, als wissenschaftlich entweder noch völlig ungeformt oder vollkommen uninteressant eingeschätzt wird« oder »Ich denke mir die Sache nun so, dass das, was man Geschichte nennt, eigentlich immer aus dem Zusammenwirken von Texten und ihren Lesern entstanden ist; immer war es die Lektüre von entsprechend geschichtshaltigen Schriften, die diejenigen, die sie lasen, daraus vorlasen und vorgelesen bekamen, historisch in Bewegung setzte, die sie alle Dinge verrichten ließ, die später zum Gegenstand der Geschichtsschreibung wurden.«
Wie viele Menschen kennt man doch, die »ein von weltanschaulichen Büchern angestecktes ideologisch buchpersonifiziertes Leben führen …«.
Giwi Margwelaschwili wohnt in einer kleinen Einzimmerwohnung. Von seinem Schreibtisch aus, der am Fenster steht, kann er viel Himmel sehen.
Herr Margwelaschwili begrüßt mich freundlich, geht in die Küche, kramt in einer Dose.
Möchen Sie Kekse?
– Klar.
Sie schreiben also auch. Auch dies Kriminologische oder etwas anderes?
– Nein, eher so kurze Geschichten.
Ich schreibe oft auch kurze Sachen. Längeres kann man ja gar nicht mehr schreiben. Das wird ja gar nicht mehr gelesen und zum Zuhören ist es ja auch besser, kurz zu schreiben. Eine vollkommen richtige Strategie.
In der Zeitung merkt man ja gar nicht, ob man gelesen wird. Und plötzlich veröffentlicht man ein Buch, tritt auf Bühnen auf und bekommt eine Reaktion. Großen Glückwunsch. Und dass sie noch mehr schreiben und richtig bekannt werden.
– In Ihrem Buch geht es ja sehr auch um diesen kommunikativen Bereich zwischen Leser und Autor, dem Text und seinen Leser. … Eigentlich geht es ja immer um dieses Verhältnis … diesen kommunikativen Raum, der ständig aufgemacht wird.
Bei mir hat der Leser einen großen Stellenwert für das, was im Text geschieht. Im Lebensleseprozess ist der Leser ganz eingespannt. … Und das nenne ich den bibliobiologischen Schnitt. In diesem Schnitt schreibe ich bloß. Es haben ja viele gemacht. Es ist ja so, dass das Buch Gegenstand wird der Beschreibung schon im Literarischen. Das haben schon alle Großen gemacht. Italo Calvino und wer da alles war. Man kann da noch viel weiter zurückgehen bis in die Klassik hinein.
Ich finde, mit der Radikalität, mit der ich das betreibe, steht das doch für sich und ist etwas Besonderes geworden. Und daran halte ich fest. Ganz gnadenlos versetze ich den Leser da auch mit hinein in das, was da schon geschrieben ist und lasse ihn auftreten mit den Textfiguren, die aus einer Vorlage genommen sind – zum Beispiel aus Rilke (der Cornet); für diese Sachen eignet er sich ganz gut. Na ja, ich experimentiere mit den Bestimmungsfaktoren des Lese-Lebensprozesses. Und da ist der Leser eine sehr aktive Komponente.
– Der Leser, der in dem Buch Meinleser heisst, ist gleichzeitig immer auch der Leser des Buches, in dem er auftaucht, dass er gerade liest.
Dieser Pembry ist ja ein Experiment unter anderen, die ich schon geschrieben habe. Nur dass es hier ein bisschen kürzer ist und das hat der Verlag dann genommen. Wobei ich andere Sachen habe, die mir weit interessanter erscheinen. Na gut, aber die haben das genommen und haben das gemacht. Dafür kann ich dankbar sein.
– Ich muss ja zu meiner Schande gestehen, dass es das erste von ihren Büchern war, das ich gelesen hab. … Die Internetseite …
Die hat mein Freund (Ekkehard Maaß) gemacht, … wie sich Maass ja überhaupt sehr engagiert gezeigt hat für das, was ich da mache.. Ich selber kann das ja gar nicht. Er hat einiges von mir genommen; hat es zusammengebastelt und es dann in’s Internet gestellt. … Ich hab das noch gar nicht gesehen. Ich hab ja auch das Internet, aber ich schalt das nicht ein, wegen der Augen. Ich vertrage nicht, in das Grelllichtige zu sehen. Es ist eigentlich schon zuviel für das Augenlicht, dass ich den Computer wie eine Schreibmaschine benutze.
– Große Erzählungen wie der Marxismus; kleine Erzählungen … Hermann Hesse, … Schweigen der Lämmer … wie würden sie den Unterschied zwischen den großen und den kleinen Erzählungen sehen. … Gibt ja auch viele, die als Jugendliche Hesse ganz toll finden und wenn sie dann älter sind, finden sie das furchtbar. …
Das hat alles zu tun mit den Phasen, die man durchläuft … sehr richtig … Obwohl: sein Steppenwolf, das ist ein tolles Buch. Das kann man immer wieder lesen. Das ist ein sehr schöner Text. … Obwohl … »Morgenlandfahrt« auch interessant; sehr interessant. Darüber hab ich auch mal geschrieben. Die großen Texte, die kleinen Texte.
Es gibt die große Geschichte, die Weltgeschichte, und die Privatgeschichte. Die Weltgeschichte. Der Mensch bekundet also zwei grundsätzliche Verhaltensweisen: einmal hin zu der Geschichte; die möchte er haben. Er möchte seine Nase in die Geschichte stecken. Da erhofft er sich Erlösung, wenn es auf weltgeschichtlichem Niveau ist. Da ist was. Das musss sein und so weiter und so fort. Er verschreibt sich, er engagiert sich usw. Dann merkt er, die Geschichte ist nicht ganz so, wie sie sein soll und dann will er weg von der Geschichte. Im Privaten ist das genauso; ganz genauso. Da will die Frau zum Beispiel die Königin in der Geschichte des Mannes werden; sie will hinein; das ist das Beste usw. Und rennt dahin. Den anderen; der keine Geschichte hat, der bescheidener ist usw. Die Geschichte sieht man nicht bei dem Mann. Die ist überhaupt nicht spürbar. Hat er sie überhaupt? – Das weiß man nicht. So ist das manchmal.
Und dann merkt die Frau auch hier – manchmal ist es so – eigentlich ist es immer so, dass die Geschichte nicht ganz so ist, wie sie erwartet hat, dass sie vielleicht sogar löcherig ist und stolperig, um Gottes Willen, sie will weg – aber da ist es schon schwieriger. Verstehen Sie? Überhaupt ist es schwierig, sich von der Geschichte zu lösen.
Auf weltgeschichtlichem Niveau ist es ganz klar. Wenn man sich da einmal engagiert hat und die Sache ist gelaufen. Wie davon loskommen? Das ist überhaupt ein Problem. Während es in der Privatgeschichte geht, aber mit ach und krach auch bloß. Und mit großen Schäden für beide Seiten.
Das ist so eine Parallele, die ich auch behandelt habe: die kleinen Geschichten zeigen das ganz besonders; im privaten Bereich. Und die großen Geschichten – das ist so eine Sache. Die großen Geschichten bekommt man ja immer positiv serviert. Da lesen Sie das Programm. Und was nachher geschieht, müssen Sie in der Dissidentenliteratur suchen. In der Kritik der anders Denkenden usw. Das ist dann die Kehrseite der Medaille. manchmal kommen Sie an das nicht ran, weil es im Ausland gedruckt wird und sie leben im Inland. … Das ist ein weites Feld. …
Der Pembry ist ja weg von der Geschichte. …
Große Texte, kleine Texte; das ist alles dieselbe Motivierung.
Das 20ste Jahrhundert steht unter dem Zeichen: weg-von-der-Geschichte. O weh, keine Geschichte! Es ist ein Sehnen nach diesem Weg.
Es ist ja besonders in Mitteleuropa so tragisch gelaufen. Und in Osteuropa. Ganz furchtbar. Ist aber auch in den Westen rübergeschwappt. Nach Frankreich.
Seit ich in Westeuropa lebe, habe ich ja festgestellt, wie viele Marxisten es in Frankreich gegeben hat. Überzeugte Marxisten. In den 30er-Jahren schon. Die haben gedacht, in der SU, da tut sich was, haben sich dafür eingesetzzt; das geht bis zu den höchsten und besten Namen. … Duras, Morin, Sartre, Merleau Ponty … Das ist ein paralleles Schicksal gewesen in gewisser Weise, obwohl weniger hart. Das ist sehr bestimmend; diese Geschichtsmächtigkeit; diese Geschichtsohnmächtigkeit. Es ist immer ein widerlicher Cocktail, den man da trinken muss. Den man gezwungen ist, zu trinken, wenn man in diesem Komplott leben soll.
Die Kriminalität der Geschichte.
Kriminalromane … das junge Genre …
In der SU gab es keine Kriminalromane. (lacht) Konnte es auch gar nicht geben, denn man wähnte sich ja im Paradies. In der Sphäre der sozialen Gleichberechtigung. Es gibt keine Verbrechen bei uns. Wer sich hier untersteht und was macht; der ist des Teufels überhaupt. Über den braucht man gar nicht zu reden. Das hat mich immer amüsiert. Natürlich gab es Verbrechen, wie überall. Aber Pschschsch. …
/Dostojewski/ Mit Dostojewski sind sie weniger zufrieden gewesen. Tolstoi, ja: da gabe es auch eine Gesellschaft, aber Dostojewski … den haben sie auch behandelt .. aber nicht mit der Liebe wie zu Tolstoi. …/Filme, später, wo’s auf Gorbatschow zu ging …
/Stanislaw Lem?/der futurologische Kongress/
Ich hab ihn auf Deutsch gelesen, Das haben mir Touristen mitgebracht. Der ist sehr gut, sehr interessant./
… Alles so aufzeichnen, wie es hätte sein können. Im modernen Schreiben ist das eine wichtige Modalität: den Konjunktiv berücksichtigen. Mit Möglichkeiten jonglieren. … Das war auch lustig zu schreiben. … Ein Jahr hab ich gebraucht. Ein bisschen mehr sogar. Ich wusste auch, dass es der Geschmackslage entspricht; der Lese-Lebenslage. (kicher)
– Kann man im echten Leben von dem Text aufblicken oder kommt man dann gleich wieder in einen anderen Text?
Es ist so: dass wir gar nicht so frei sind, wie wir zu sein glauben; wir sind sehr determinierte Lebewesen. … Die Geschichte ist ja Schrift. Wer die Schrift hat und das Buch hat, der ist immer vorneweg gewesen. Das steht schon im Livius drin: dieser gallische Fürst, 399 vor Christi kommt der da hoch. Da ist Rom noch ein ganz kleiner Stadtstaat. Sowas ganz Winziges noch; das Imperium ist noch weit. Und der kommt da und schlägt alle Kohorten. Rom liegt vor ihm. … Der römische Legat kommt zu diesem (?) ins Lager und der fragt: »Mit welchem Recht bist du auf unserem Territorium?« Mir welchem Recht. Das ist büchern. Das Recht ist schriftlich. Es kann eine Rune sein. Gesetz ist der Buchstabe. Und dieser gallische Fürst sagt diesen klassischen Satz: »Na, mit dem Recht des Schwertes bin ich hier; siehst du das nicht, du Blödmann?!«
Der bücherne Mensch gegen den schriftlosen Mensch, diesen Gallier also.
Der ist dann wieder abgezogen. Die haben sich losgekauft, diese Römer; die haben Lose gekauft; mit Gold. (kichert) Und wer ist geblieben in der Geschichte? – Natürlich Rom, mit der Schrift und dem Gesetz.
Der Mensch in seinem Wesen ist ein büchernes Wesen. Er steht fest auf bücherner Grundlage. Textlich ist sein Sein. Und sei es nur durch Gesetzesbücher.
Als Allgemeinperson sind wir durch und durch ontotextlich festgelegt. Alles, was wir machen dürfen, steht geschrieben. Und wenn wir dann übertreten, trifft es uns privat. Es gibt also eine ontotextliche Determination. Sogar Prädetermination am Subjekt der Menschheitsgeschichte.
Das ist meine sowjetische Erfahrung.
Da war ja alles ideologisch. … …. (die Klassiker des ML – auf die musste man immer verweisen, wenn man etwa eine Dissertation schrieb).
Und selbst, der nicht mitmachte, musste mitmachen, dem das zuwider war; der war mit eingespannt, weil er ja nichts machen konnte, weil er ja da war und durch seine Präsenz die Sache mitunterstützen musste. /Geschichtsträger/
– Heidegger, der Körper ist nicht anwesend echte Angst, echte Verzweiflung vs. »unechte Angst« von Angstpatienten etwa.
Der Körper ist ja nicht Text.
Ich nehme den Körper mit rein. Nur ist der Körper bei mir der Lesekörperstoff. Die Buchperson hat ihren eigenen Körper; der ist aus Lesestoff. Sie ist lesekörperstofflich da. Zwar eine geistige Substanz, aber hat ihren Stoff, um den sie bangt. Aber jetzt zu Heidegger. /Husserl … berücksichtigt ja auch mit den Körper … in der Fremdwahrnehmung etwa … bei Heidegger ist das alles aufgelöst in existenziale Intentionalität. Das ist bei ihm die Hauptsache. … Dies Ausgerichtetsein auf das Eigentliche … Alles andere lässt er aus. … Die Angst kann uneigentlich sein. Dann ist sie ausgerichtet auf Dinge, die den Alltag betreffen. … Wenn er sich selber sucht … interesseloses Interesse. … Etwas muss man machen, aber was, weiss man nicht. … In den 20er-Jahren hieß es ja oft: »Die Schüler Heideggers sind sehr entschlossen; man weiß nur nicht, wozu.« … Der große Unsicherheitsfaktor, in dem man schwebt, in dem man schweben muss. Es fällt nicht vom Himmel. Die Glückspilze, die sehr genau wissen, was sie tun sollen, sind sehr rar. Ein kolossaler Sänger zum Beispiel ist sehr rar im Leben. Die meisten müssen suchen, sich finden, durch hundert Wölfe gedreht werden, bis sie endlich dran sind. … Wo ein katholischer Pastor ihm (Heidegger) antwortete: »Der Mensch wird nicht geworfen, der Mensch wird geboren.« … Unsere Eltern suchen wir uns nicht aus. Was sind wir, wenn wir geboren sind.
Die Kurve, die die Philosophie im 20sten Jahrhundert genommen hat.
Weg von der alten Beschaulichkeit und Sicherheit.
Er lobt den französischen Philosophen Edgar Morin. Das Biologische zieht er in das Logische hinein. (Er liest auf Französisch.)
Schon in Berlin hatte ich einen Freund mit französischen Eltern. So hatte ich das gelernt. /…/
Fußball … Jetzt geht ja der Fussball los: im Juni.
– Wie sind sie zum Verbrecherverlag gekommen?
Zuvor: Aufbau, Insel, Aber die haben mich da nicht weitergebracht. Da hatte wohl die Reklame gefehlt. (Sechs Bücher in drei Jahren) Ich kann mir das nur vorstellen, dass sie meinten, mit den Büchern, die schnelle Mark zu machen. Ohne Reklame. Schwer zu lesen. … die seltsamen Fremdwörter … Der Leser muss sich mitnehmen lassen wollen. … Sechs Bücher sind unbeachtet untergegangen. Falsch gelaufen. Nichts zu machen.
So saß ich dann eine lange Zeit ohne Verlag.
Und dann hatte ich mich an einen Literaturagent gewandt. Axel Haase. Wunderbar ist der. Der Sundermeier wollte das erst nicht. Dann hatte er das gelesen. … Wird keiner reich mit, aber Sie kommen raus. …
– Heimat. Berlin. Das Verhältnis?
Das ist meine Sprachheimatstadt. Ich versteh Georgisch, aber ich verstehe es mangelhaft. Ich verstehe Russisch, aber ich verstehe es mangelhaft. Ganz frei beherrsche ich diese Sprachen nicht. … Die kleinen Völker, die können sich gegenseitig nicht riechen … Du gehörst nicht dazu. Das habe ich oft erfahren. Das war eigentlich eine Konstante in meinem Leben. Der Grund lag eben in diesen sprachlichen Defiziten. Bei mir fällt das hier weg. Dass ich nicht dazu gehöre, hat sich nicht geändert. Ich habe ja meinen Namen da (, der nicht deutsch ist). Ab und zu finde ich meinen Namen auf dem Postkasten abgerissen. Ab und zu gibt es auch Angriffe(?). Aber es gibt in Berlin auch viele, die verständnisvoll sind und mich unterstützen. So fällt das andere gar nicht ins Gewicht. Aber es ist auch da. Keiner soll mir sagen, dass die Emigration einfach ist. Das ist ein schweres Los. Besonders für die Kinder der Emigrierten. Die haben das dann auszubaden. … Aber sonst fehlt es nicht an Aufmerksamkeit, Freundschaft und Verständnis.
Seit sieben Jahren in der B. Straße. Das große Los gezogen. Ich kann den Himmel sehen.
– Vielen Dank.
(1 Stunde und 4 Minuten waren vergangen; am Vortag hatte mir Ekkehard Maaß gesagt, ich solle nicht länger als eine Stunde bleiben; fast war ich stolz auf, dass ich pünktlich gekommen war und dass das Interview fast genau eine Stunde gedauert hatte.)
Als ich gehe, sagt Giwi Margwelaschwili: »Ach, nehmen Sie sich doch noch ein paar Kekse mit!« – Ich nehme ein paar und tue sie in die rote Berlinaletasche von 2001.
Freitag, 18.01.08
Das Werk Giwi Margwelaschwilis zu charakterisieren fällt schwer. Wenn man es versucht, klingt es unlebendiger, als es ist. Denn immer geht es um den Text, der den Menschen determiniert, die »ontotextuelle Verfasstheit« des Menschen; die große Geschichte der Ideologien, die ihn formt und zermahlt, in die er flieht und aus der er flieht – und die kleine Geschichte, denn im »Privaten ist es ja ganz genauso. Da will die Frau zum Beispiel die Königin in der Geschichte des Mannes werden; sie will hinein; das ist das Beste, und rennt dahin. Und dann merkt die Frau auch hier – manchmal ist es so, eigentlich ist es immer so –, dass die Geschichte nicht ganz so ist, wie sie erwartet hat, dass sie löcherig ist und stolperig. Um Gottes Willen, sie will weg – aber da ist es schon schwieriger. Verstehen Sie? – Es ist schwierig, sich von der Geschichte zu lösen.«
Giwi Margwelaschwili sah sehr elegant aus an diesem Abend. Der Veranstaltungsraum des Literaturforums war überfüllt; man saß so eng, dass man mit den Schultern an die seiner Nebenleute stieß. Ekkehard Maaß sprach in der Eingangsrede über den »schwarzen Raben« des Unglücks und Pechs, der den Dichter immer verfolgt hatte. Giwi Margwelaschwili sagte, es sei auch ein Vorteil, ein wenig gelesener Autor zu sein. So könne man immer ohne die Gefahr, etwas schon Bekanntes zu präsentieren, aus alten Werken lesen. Tags zuvor hatte er noch gesagt, er trete eigentlich nicht so gerne öffentlich auf; nun inszenierte er, auf den Punkt genau vorbereitet, gestenreich, genau akzentuiert kurze Passagen aus seinen Werken. Mit großer Freude verlebendigte er seine Texte, die die Widerständigkeiten anderer Texte – Rilkes Cornet etwa oder Hamlet – ausloteten oder die, völlig minimalistisch, von dem kleinen, von zwei »t’s« bedrängten »o« handelten und sagte irgendwann: »Wenn es zu lang wird, müssen Sie mir das sagen. Ich merk das nicht.«
Umringt von Bewunderern stand er später in der Tür und sagte beim Gehen: »Irgendwann müssen wir einmal nach Georgien fahren. Das wird ein tolles Ding!«
Samstag, 19.01.08
Sonntag, 20.01.08
Die Raucherinsel vor dem Fußballplatz bestand nur aus dem Schild »Raucherinsel«.
Montag, 21.01.08
Tags zuvor hieß dieser Club noch »Poker 2«.
Das Gespenst der Aufklärung.
Deiner vielleicht.
Mehringplatz-Idylle
Gestern war der Himmel irgendwie bedrückend; heute war es schön, stundenlang im Regen spazieren zu gehen. Dies Fahrrad am Halleschen Tor beobachte ich schon seit Monaten.
Dienstag, 22.01.08
Heidegger, Rolf Schwendter und Gerburg Treusch-Dieter.
Mittwoch, 23.01.08
Das Auto, das vor dem Literarischen Colloquium am Wannsee stand, schien ganz okay zu sein. Es gehört dem Deutschlandfunk. Im Inneren des Hauses sprachen Friedrich Kittler, der Amerikanist Heinz Ickstadt und der Pynchon-Übersetzer Nikolaus Stingl über Against the Day. Moderiert wurden sie dabei von Denis Scheck. Gegen den Tag wird im Mai auf Deutsch rauskommen.
Seit vielen Jahren steht dies Fahrrad schon am S-Bahnhof Yorckstraße.
Jump’s Raucherinsel
Samstag, 26.01.07
Besuch bei W., er sammelt solche Sachen.
Die Stelle an der Hand, in die mich ein Mitschüler mit dem Bleistift gestochen hatte, ist immer noch bleistiftgrau.
Sonntag, 27.01.08
Montag, 28.01.08
Plötzlich war das Auto weg.
Umräumung
Dienstag, 29.01.08
Ich mach mir Sorgen.
Donnerstag, 31.01.08
Alles klar?
Alles klar!
© Alle Fotos: Detlef Kuhlbrodt