Umsonst & draußen ist ein Fototagebuch, das wie das gleichnamige Buch Anfang 2006 beginnt. Das Material stammt größtenteils aus dem Blog november07, den Detlef Kuhlbrodt ab Ende 2006 und bis Herbst 2013 für die taz gemacht und für das Logbuch noch einmal durchgesehen, an einigen Stellen gekürzt und an anderen erweitert hat, um das Erzählerische zu betonen. Eigentlich ist Umsonst & draußen eher Fotogeschichte als Tagebuch; die Aufnahmen sind die Umgebung einer nicht erzählten Geschichte. Kuhlbrodt ist losgegangen auf der Suche nach Bildern, die irgendwie zueinanderpassen und dem Tag ein Gesicht geben. Manchmal sind die Helden Fahrräder, manchmal Autos, manchmal gibt es auch Menschen.
Samstag, 01.09.07
Alle waren da.
Sonntag, 02.09.07
Den Sommer beschloss der Karneval der Verpeilten am Planetarium an der Prenzlauer Allee. Zwei- bis dreitausend Leute waren wohl gekommen, um für den Weltfrieden zu tanzen. Der Park hinter dem Planetarium war jedenfalls proppenvoll.
Zum ersten Mal hatte der Karneval der Verpeilten glaube ich 2002 stattgefunden. 2003 war’s jedenfalls auf dem Mariannenplatz und später auch mal im Treptower Park. Weil der Karneval der Verpeilten ein Geschenk ist, war der Eintritt umsonst.
Das Publikum der Technoparty zitierte schätzungsweise vierzig Jahre lebenspraktisch ausgerichtete Gegenkultur: Es gab einige tribalistisch orientierte Gruppen, die so familymäßig auf Decken nebeneinander saßen. Die Goa-Oma im trauten Gespräch mit ihrem Punkenkel und solche Geschichten.
Ein Mann erinnerte mich an Winnetou. Er saß aufrecht, mit einer auch nach aussen gerichteten Entspanntheit wie ein Yogarlehrer, mit nacktem, braungebrannten Oberkörper und pechschwarzen Haaren im Indianersitz und drehte einen äußerst akuraten Joint, den er später mit so ganz ausgesprochen besonders bewussten Gesten weiterreichte.
Ein anderer drehte einen Joint mit einer Hand und benutzte die andere Hand als Bröselschale.
Als Attribut trägt jemand einen Indianerschmuck auf seinem Kopf. Ein junges dünnes Mädchen, fast ein Hemd, zieht einen Holzschlitten hinter sich her. Sie ist mit ihrer Freundin hier. Beide wirken fröhlich.
»Du warst doch Peter?!«, begrüßt ein Junge einen anderen.
Viele Mütter hatten ihre kleinen Kinder mitgenommen und später über die Veranstaltung teils auch in Blogs berichtet. Im Ruderclub Mitte gibt es jede Woche einen »Mutter-Kind-Rave«.
Eine Frau trug eine knallrote Plastiktasche. Auf der Tasche stand »Berlin wasted youth«, wie auf dem Truck, mit dem der Ruderclub Mitte Anfang des Sommers am »Karneval der Kulturen« teilgenommen hatte.
Ein Mann hatte ein Bussi-Bär-Kostüm an. Den Kopf trug er meist in der Hand, weil’s sonst zu heiss war.
Einer hatte sein Gesicht so clownsmäßig geschminkt.
Einer lief in einer südamerikanischen Ethnojacke herum.
Logischerweise gab’s auch Luftballons, Frisbees und Seifenblasen.
Eine Frau trug ein schwarzes Nonnenkostüm. Den schwarzen Rock hatte sie hastig sehr kurz geschnitten. Hinter mir sagte ein Junge zu seinem Freund, dass sie darunter sicher nichts anhaben würde.
Mehrere junge Frauen waren als Krankenschwestern verkleidet und beschenkten Leute, die sie beschenkenswert hielten, mit roten Sternen, die man sich irgendwo rankleben konnte, Auf der Rückseite ihrer Kittel stand: »Bis der Arzt kommt«.
Am Rande haute ein Betrunkener mit lustigem Cowboyhut immer wieder rhythmisch auf eine Mülltonne und wurde dafür ironisch beklatscht.
Ich dachte an die alternativ gekleidete Frau, die ich hier vor zwei Jahren gesehen hatte. Sie hatte sehr nett und irgendwie auch wie ein Maulwurf geguckt und ein Pappschild hochgehalten, auf dem »Suche dringend meine Brille« gestanden hatte.
Und später (vor zwei Jahren), als es schon dunkel gewesen war, war ein dünnes Mädchen zu uns gekommen. Wir hatten im Kreis auf dem Boden gesessen und sympathisch ausgesehen. Sie hatte gezittert und sich bemüht, ihr Zittern zu kontrollieren. Sie hatte gesagt, ihr wäre so kalt und ob sich vielleicht jemand hinter sie setzen könne, während ihr nervöser Freund immer wieder wilde Indianertänze aufgeführt hatte. Eine Weile war Ruhe, dann war’s wieder losgegangen. Stampfend war er auf dem Boden herumgesprungen. Those were the days.
Ein Kreuzberg-80ies-Revival im Outfit der Leute. Richtig viele waren durchgehend schwarz angezogen. Pechschwarz färben sich auch manche wieder die Haare.
U. sprach von Woodstock. Mein Kopf dachte automatisch den Artikelhalbsatz: »… aber ohne verwertbaren Proklamationscharakter«.
Das Publikum war ziemlich gut, großstädtisch und bodenständig. G. meinte, die meisten würden hier sicher wohnen.
Die Musik am Nachmittag (u.a. Liebe ist cool, Matt John, die Cereal Killers und Tobi Neumann) war angenehm relaxed bis verspielt psychedelisch.
»NICHTANTIZIPIERBARKEIT« war die politische Parole auf der Fahne, die jemand am frühen Abend zwischen zwei Lautsprecher steckte.
Als Der Dritte Raum spielte, war alles ziemlich super. Die Leute gutgelaunt die Musik prima – Andreas Krüger spielte auch Hits von vor zehn Jahren, als Der Dritte Raum ein paar Jahre Headliner auf der Fusion war. Damals hatten sie manchmal erst um drei Uhr morgens angefangen zu spielen. Danach dann Oliver Koletzki – alles okay. Und die Leute hatten dann da gestanden mit ihren bunten Lachgas-Ballons.
Wie schon vor zwei Jahren gab es am Ende schlechte Stimmung. Die schöne Athmosphäre, die man über acht Stunden aufgebaut hatte, kippte. Erst hatte es eine Pause gegeben und in dieser Pause besonders ekelhafte House-Stücke, wo man sich vorstellt, die kann nur jemand spielen, der House hasst und als Stil denunzieren will.
Dann war Khan erst kurz und schlechtgelaunt so übertrieben pseodcrooner- und discorockermäßig aufgetreten, daß man dachte, es handle sich um eine Parodie. Nach zehn Minuten begann er damit, seinen DJ (es war glaube ich eine DJane), über’s Mikro zu beschimpfen. Dass sie seinen ganzen tollen Auftritt kaputtmachen würde und so weiter.
Wir standen an der Bühne und dachten, das ist Theater, eine blöde Parodie und gleich würde der Musiker zum Richtigen kommen. Aber es war alles echt.
Die Stimmung auf der Bühne muss furchtbar gewesen sein. Genervt und enttäuscht (wie über eine Lieblingsmannschaft, die einen toll herausgesspielten Vorsprung in den letzten fünf Minuten vergeigt gegen einen richtig unsympathischen Gegner) gingen wir dann zu Freunden, die weit weg von der Bühne rumhingen.
Die letzte Stunde standen vielleicht noch 20 Leute, in spontan ausgedachten Choreografien zu aktuellen Clubhits vom Band bwz. digital. Wahrscheinlich waren’s wohl die Helfer. So rettete man sich irgendwie bis viertel nach zehn als dann Schluß war.
Dienstag, 04.09.07
Im Herbst am Morgen ist die Sonne viel intensiver und angenehmer als im Sommer.
Und jeden Tag geht man den falschen Weg auf’s Neue.
Mittwoch, 05.09.07
Gestern Abend, viertel nach acht, Ecke Axel-Springer-Straße.
In Wirklichkeit ist es wohl anders.
Vielleicht ist das sogar schon die Rudi-Dutschke-Straße. Tagsüber hatte ich in einem Buch über die 60er Jahre gelesen (Alles schien möglich … ; Verlag: der Grüne Zweig). P.P. Zahl hatte darin geschrieben: »Rudi Dutschke war nie jener gewaltlose (Schein-)Heilige, zu dem man ihm nach seinem Tode machen wollte«.
Die Meldung heute morgen, dass Sony eine neue Kamera auf den Markt gebracht hat. Man kann sie so einstellen, dass sie nur fotografiert, wenn die Fotografierten auch lächeln.
Es gab noch eine zweite interessante Kurzmeldung, doch die fällt mir gerade nicht mehr ein.
btw.:
Donnerstag, 06.09.07
Fensterrahmen; Mitte.
In Wirklichkeit war der Fensterrahmen gar nicht schwarz.
Diese Oliver-Sacks-Geschichte von dem kleinen Jungen, der sich so gerne mit Kränen unterhält.
Und denkt, er sei ein Kran unter Kränen.
Samstag, 08.09.07
Headbanging.
Köpi bleitb!
Mit Ölwechsel.
Helmut Kohl.
Jeden Tag wird die Pflanze mehr.
Sonntag, 09.09.07
Ich rief B. an. Er ist Historiker, er kennt sich aus. Ob wir die RAF-Dokumentation von Stefan Aust und Helmut Büchel nicht zusammen gucken wollten?
»Es ist doch viel besser, wenn du dabei bist. Da kannst du mich dann gleich auf die Falschheiten aufmerksam machen, denen ich als historischer Laie sonst möglicherweise auf den Leim gehen würde« und Ähnliches sagte ich, um ihn für den Abend in meine Wohnung zu locken, denn alleine gucken bringt keinen Spaß.
Früher war B. mal linksradikal gewesen, was immer das auch heißt. Studentisch organisiert in Frankfurt oder Gießen. Das hieß: Pamphlete verfassen; im ersten Stock des Studentenvertretungshauses mit den anderen Studentenvertretern berauscht große Reden über die Revolution schwingen. In der Nacht hatten sie das Fenster aufgemacht und vom Fenster herunter für das imaginäre Volk, das da nicht stand, revolutionäre Reden gehalten.
War bestimmt super.
Eigentlich wäre er in der Zeit, von der der erste Teil der Dokumentation erzählt, die meiste Zeit betrunken und behascht gewesen, sagte er und dann wohl erst ab Ende der siebziger politisch einsatzfähiger gewesen. Er hatte aber noch seinen Abschluß gemacht und sich erst danachder Gesellschaft verweigert, wie man so sagt. Seit einigen Jahren arbeitet er wieder in soziokulturellen Zusammenhängen auf ABM-Basis.
Die einzelnen Stationen, Plots, die Personen, die einschlägigen Szenen kannte man – im Grunde genommen gibt es ja fast jeden Tag auf irgendeinem Kanal eine RAF-Dokumentation und das schon seit Monaten. Vor dem Fernseher kam man sich also so ähnlich vor, wie ein Theaterkenner, der sich die xte Inszenierung eines bestimmten Stoffs anguckt und sich kennerisch über Variationen freut. Es gab zum Beispiel ganz tolle Filmaufnahmen aus der Frühzeit des »2.Juni«; wie die da alle so stoned, entschlossen, arrogant, auf dem Boden herumlümmeln. Wilde bunte Freaks aus den frühen 70ern.
Wie Pop- oder Filmstars waren sie sich (auch die RAFler) ihrer Aussenwirkung bewusst und sahen gut aus.
Astrid Proll und Bommi Baumann sprachen lebendig und sehr anschaulich über die Frühphasen. Es wäre toll, wenn Bommi Baumann ein Hörbuch rausbringen würde. Volkes Stimme, die in anderen Dokus dafür plädiert hatte, die RAFler umzubringen (das wäre noch viel zu wenig …), fehlte dies Mal.
Dafür gab’s Sachen, die entweder neu waren oder die ich vergessen hatte; Gefängnispersonal und Richter und wie sehr Ulrike Meinhof von ihren Genossen gemobbt worden war, oder wie sie dann in einem Brief an ihre Genossen, Selbstkritik übte, zugab, durch ihre Sozialisation notwendigerweise Faschistin zu sein.
Am härtesten am Ende ein Tondokument von Ulrike Meinhof, vier Tage vor ihrem Tod. Im Stammheimer Prozeßsaal. In ihrer Rede beschimpft sie – sinngemäß – die Strafverfolgungsbehörden dafür, dass den Gefangenen, die ihre Position verändert hätten, keine Möglichkeit gegeben werde, dies zu erkennen zu geben. Ihnen bliebe nur die Wahl zwischen Verrat und Schweigen/Tod. »Und das nenne ich Folter«.
Keiner der Richter und Staatsanwälte bemerkt, dass sie wohl aussteigen wollte. Sie sind so fixiert auf die »Folter«, dass sie sie mehrmals ermahnen und sie dann von der Sitzung aussschließen.
Als es dann um die Schleyer-Entführung ging, dachte ich kurz, jetzt ist der erste Teil garantiert gleich zu Ende; idealer Cliff-Hanger. Es war tatsächlich so.
Den zweiten Teil gibt es heute abend.
Um 20:15.
Im Fernsehen.
Montag, 10.09.07
Blumenberg.
Teuteburger Platz.
Auch da.
Ein wenig weiter.
Auf dem Nachhauseweg hatte ich immer noch dies Stück von King Crimson im Kopf. 1977 hatte ich viel King Crimson gehört und aus verschiedenen Gründen am Wochenende viele Stücke noch einmal. Im Kopf war eine Kratzerfunktion; deshalb lief die ganze Zeit Starless (Bible Black). Manchmal auch Book of Saturday.
King Crimson hatte ich zuvor zuletzt vor zehn oder elf Jahren, bei der Beerdigung von Jens, dem langjährigen taz-Hausmeister, gehört. Damals lief glaube ich Talk To The Wind in der Kapelle.
Der zweite Teil der RAF-Doku war enttäuschend; zu sehr auf Mogadishu zentriert, zu actionorientiert und als Zuschauer war man enttäuscht, dass es keinen toll recherchierten dritten Teil mehr über die Zeit danach gab.
Die 60er Jahre seien das Jahrzehnt »that has stolen the show«, schreibt der amerikanische Autor Tom Robbins. Die RAF war die Gruppe, die allen anderen Bemühungen der 70er die Show gestohlen hat. Denken Viele. Glaube ich. Dass sie offziell als »anarchistische Gewalttäter« geführt worden waren, finde ich immer noch sehr seltsam. Wahrscheinlich, weil ich als pazifistischer Teenager ein paar Jahre immer mit diesem schwarzen Stern rumgelaufen war.
»Und warum beschimpfen alle Peter-Jürgen Boock so sehr?« – »Ist doch klar: Heimkind, Ex-Junkie!« – »Also Klassenkampf von oben.« – »Genau.« – »So ähnlich ist es glaube ich auch bei Hans-Joachim Klein, wenn die ihn immer mit so einer komischen Süffisanz ›Klein, Klein‹ zu nennen.
Selbst wenn Daniel Cohn Bendit (in: Ein deutscher Terrorist – Die Geschichte des Hans-Joachim Klein, von Alexander Oey), der Klein viel geholfen hat, über ihn redet, klingt es nicht, als wenn ein Freund über den Freund redet, sondern irgendwie patriarchalisch.«
Dienstag, 11.09.07
Kreuzberg.
Kreuzberg. Die noch kleinere Botschaft an einer Wand hier in der Gegend, auf der »Sex forever« stand, hab ich leider nicht wiedergefunden.
Rosa-Luxemburg-Straße.
Die Neokrautrockband Atelier Theremin präsentiert jeden Monat psychedelische Filme im Doppelprogramm. Der jeweils erste Film läuft ohne Ton, wird dafür live begleitet von der Band, die mit allerlei seltsamen Instrumenten elektronik-basierte Klangexperimente zwischen Pop, Trash, Psychedelic, Krautrock und ›Neuer Musik‹ macht. Das Theremin wurde durch seine Verwendung im Beach-Boys-Klassiker Good Vibrations berühmt.
Die Röhrenradios verwenden die vier Musiker als Monitorboxen.
© Alle Fotos: Detlef Kuhlbrodt