Umsonst & draußen ist ein Fototagebuch, das wie das gleichnamige Buch Anfang 2006 beginnt. Das Material stammt größtenteils aus dem Blog november07, den Detlef Kuhlbrodt ab Ende 2006 und bis Herbst 2013 für die taz gemacht und für das Logbuch noch einmal durchgesehen, an einigen Stellen gekürzt und an anderen erweitert hat, um das Erzählerische zu betonen. Eigentlich ist Umsonst & draußen eher Fotogeschichte als Tagebuch; die Aufnahmen sind die Umgebung einer nicht erzählten Geschichte. Kuhlbrodt ist losgegangen auf der Suche nach Bildern, die irgendwie zueinanderpassen und dem Tag ein Gesicht geben. Manchmal sind die Helden Fahrräder, manchmal Autos, manchmal gibt es auch Menschen.
Samstag, 01.12.07
BSC Eintracht Südring, Willi-Boos-Sportanlage
Sonntag, 02.12.07
Dienstag, 04.12.07
Als Teenager war Die Reise von Bernward Vesper mein Lieblingsbuch und Bernward Vesper mein Idol. Ich hatte es dreimal gelesen.
In den Fußnoten hatte er immer so buchhalterisch vermerkt, unter welchen Drogen er einzelne Teile geschrieben hatte.
Drogen als Arbeitsmittel zu verwenden; ein verführerisches Konzept, das den Rausch an die Arbeit und die Arbeit an den Rausch verrät.
In der Generation von Vesper (den 68ern) waren Drogen auf diese Weise ideologisiert; als Produktionsmittel und als Mittel zur individuellen »Bewusstseinserweiterung«, die der gesellschaftlichen Revolution vorangehen müsse. Drogen allein um des Rausches willen zu verwenden, war suspekt.
Bei Vesper führte das LSD dazu, dass er seine Mitmenschen als »Vegetables« wahrnahm.
Ecstasy hatte in den 90ern dazu geführt, dass wildfremde Leute einander umarmten.
Die Entideologisierung illegaler Drogen schien mir in den 90ern ein großer Fortschritt zu sein.
Lebenstechnisch wäre es für Vesper vermutlich besser gewesen, wenn er einen guten Psychoanalytiker gefunden hätte, anstatt zu versuchen, sich schreibend zu kurieren. (So kam es mir jedenfalls als Leser vor.)
Die Reise war auch deshalb so erfolgreich, weil sich der Autor das Leben nahm. Als Teenager hatte man das Buch – und den Autor – auch deshalb so toll gefunden; so nach dem Motto: Hier hatte es jemand wirklich richtig ernst gemeint.
Von den 68ern und 70er-Jahre-Linken war Vesper vielleicht so begeistert adoptiert worden, weil er durch seinen Tod stellvertretend gezeigt zu haben schien, wie fürchterlich die Spannungen waren, unter denen die ehemaligen Linksradikalen damals standen.
Die Rezeption über die Jahre war auch ganz interessant: In dem Film Die Reise (1986) wird das Drogenthema, das im Zentrum des Buches steht, heruntergefahren (der Held raucht einen kleinen Joint, nachdem der Sohn endlich eingeschlafen ist, um sich besser seinen Erinnerungen überlassen zu können); 2005 erschien dann ein kleines Büchlein von Henner Voss (Vor der Reise – Erinnerungen an Bernward Vesper (edition nautilus), der zwischen 1959 und Mitte der 60er-Jahre mal (da waren beide Anfang 20) mit Vesper befreundet gewesen war.)
Ich fand das Buch ausgesprochen denunziatorisch. Voss beschreibt, was für ein verwöhnter, gestörter Idiot Bernward Vesper in seiner Jugend gewesen und wie gewandt, klug, reif und gebildet er dagegen als junger Mann gewesen wäre. Unglaublich; dass jemand mit 63 noch so neidisch auf den posthumen Ruhm eines Jugendfreundes ist, dass er ihn noch 36 Jahre nach dessen Selbstmord meint, denunzieren zu müssen.
Vorgestern hatte es in der taz einen Artikel über Selbstmord gegeben. Darin stand, dass sich 1980 noch 18.450 Menschen in Deutschland (West und Ost) das Leben genommen hätten. Nun wären es nur noch 9.765.
Damals gab es sehr Viele, vor allem junge Männer, die davon ausgingen, nicht älter als 30 oder 35 zu werden. Das hatten mir auch viele erzählt, die in den 70er-Jahren in der linken Szene waren. Alle stellten sich vor, spätestens mit 35 tot zu sein.
»›Ganz oben auf der Don’t-Liste der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention stehen Artikel und Fernsehbeiträge, die den Suizid als nachvollziehbare, konsequente oder unausweichliche Reaktion darstellen‹, heißt es in einem Merkblatt der Präventionsgesellschaft für die Medien«, stand in der taz.
Drei empathische Bücher über den Selbstmord waren damals große Erfolge: Jean Amerys Hand an sich legen, Alfred Alvarez‘ Der grausame Gott und die Gebrauchsanleitung zum Selbstmord von Claude Guillon und Yves LeBonniec, die eine Weile verboten war.
Interessant, dass die Zahl der Selbstmorde im gleichen Maß gesunken ist, wie die Zahl der Verkehrstoten.
In der ZEIT hatte es auch einen Artikel über Altersselbstmord gegeben. Darin hieß es: »Der durchschnittliche niedergelassene Allgemeinmediziner wird alle zwei Jahre von einem Patienten um Sterbehilfe gebeten. Die Suizidrate der Alten ist in Deutschland zehnmal so hoch wie die der Teenager. Bei jährlich über weit 5.000 Suizidfällen allein in dieser Gruppe, fällt die winzige Zahl derer, die die Flucht in die Schweiz antreten, kaum ins Gewicht.«
Ob die Suizidrate gleichermaßen bei Jungen und Alten zurückgegangen ist, oder nur bei den Jungen, stand in keinem der beiden Artikel.
Bei den Alten ist die Dunkelziffer vermutlich sehr hoch; nicht nur aus Gründen der Scham, sondern auch wegen der Lebensversicherung, werden andere Todesarten angegeben.
Im Frühjahr 2006 in Bad Segeberg (13.000 Einwohner) hatte es innerhalb von zwei Wochen vier Altersselbstmorde gegeben. Und in Gesprächen hatte man den Eindruck, Selbstmord sei die Haupttodesursache unter alten Menschen.
C. rief: »Wie ist es denn jetzt berühmt zu sein?!« Denn gerade war ein sehr netter Artikel von Jenni Zylka in der zitty über Morgens leicht – später laut erschienen. Manchmal fährt die Kollegin in einem todschicken Opel Manta (oder Ascona; nein doch: Manta) die Mittenwalder Straße entlang.
Donnerstag, 06.12.07
Fußgänger der Lüfte.
Auf dem Boden vor der Passionskirche.
Am Fenster drückt sich der Nikolaus die Nase platt. Zuvor hatte er sich in einer kleinen Plastiktüte versteckt gehabt, die am Türknopf hing. Das war gestern und auf ARTE lief zeitgleich eine schön vorweihnachtliche Reportage über indische Fakire.
Die beiden netten Wichte hatten dem Weihnachtsmann vorhin bei seinen Aufgaben geholfen. Das Attribut des russischen Kindes ist ein schöner roter Stern. Realmenschen haben als Attribut manchmal ein Weizenbier am Nachmittag oder eine Sonnenbrille in der Nacht, die sich mittlerweile ja auch schon ganz schön lang hinzieht.
In dem Buch (Officer Pembry, Verbrecherverlag) von Giwi Margwelaschwili, das ich gerade lese, geht es um Realmenschen und Buchpersonen und wie sie einander beeinflussen; ein schönes literarisch-philosophisches Alterswerk (der Autor wird dieser Tage achtzig). Ein langsames Buch. Seltsam filigrane Alterspedantik. Sehr angenehm zu lesen. In diesen Zeiten liest man ja sowieso immer ganz gern.
Sehr hilfreich gegen spätherbstliche Melancholien sind die Beton & Garten-Blogs.
Samstag, 08.12.07
Utopie Gegenlicht
Was wollen die denn? – Ach ja; die große Klimademo.
Sie sehen gut aus und haben alles im Griff.
Kurz darauf, bei Z. wollten wir uns natürlich an der Aktion beteiligen. Einige waren dafür, andere dagegen, aber letztlich auch nicht wirklich engagiert. Bestenfalls zwei Drittel in der Nachbarschaft hatten das Licht abgedreht. Im Stillen hätte ich es bestimmt toll gefunden, wenn das Stromnetz zusammengebrochen wäre. Nicht wirklich engagiert machten wir das Licht an und aus.
Hysterisch angeregt für einen kleinen Moment, verfolgten wir den kurzen Bericht im Fernsehen.
Als sich die Wogen der Begeisterung geglättet hatten, guckte ich mir eine Klaus-Beyer-DVD im Nebenzimmer an.
Sie heißt Klaus Beyer’s DVD – die zweite, ist bei amsel-records erschienen und besteht aus vielen Super-8-Filmen, die der fünfte Beatle und Vater der Wohnzimmermusik zwischen 1983 und heute gedreht hat, einigen Dokumentationen, Bonustracks usw.
Das Bild ist aus seinem in San Francisco gedrehten Musikfilm San Francisco, in dem er den gleichnamigen Hit von Scott Mc Kenzie noch einmal interpretiert.
An diesem Abend hatte Klaus Beyer im Zur-Möbelfabrik, Brunnenstraße 10, sein neues Beatles-Album Revolver vorstellen sollen. Revolver ist das erste psychedelische Album der Beatles. Erstmals hatten die Fab Four mit rückwärtslaufenden Tonbändern und indischen Instrumenten gearbeitet. John Lennon, dessen Todestag sich am Samstag zum zwanzigsten Mal gejährt hatte, hätte in dieser Zeit jeden Tag LSD genommen, so heißt es.
Revolver ist die siebte Beatles-LP, die Beyer neu interpretiert hat und supergut gelungen!
Klaus Beyer in einem Sketch von 1983.
Klaus Beyer hatte nicht kommen können. Am Freitag sei er plötzlich umgefallen und liegt seitdem mit Verdacht auf Schlaganfall im Krankenhaus, erzählte Frank Behnke, sein Manager. Hoffentlich ist Klaus bald wieder wohlauf!
Hier noch ein Artikel zur Einführung in das Werk von Klaus Beyer, den ich vor zwei Jahren für die taz geschrieben hatte:
Einsam sind die Menschen
Es werden immer mehr
Einsam sind die Menschen
Wo kommen die bloß her? (Eleanor Rigby)
Lange hatte ich von Klaus Beyer nichts mehr gehört. Wir kennen uns schon zehn Jahre, hatten miteinander geplaudert, Kaffee und Kuchen in seiner Kreuzberger Wohnung gegessen und die Konzerte, die meist mit »Hauptmann Pfeffer« begannen und dem »Grünblauen Unterwasserboot« endeten, waren immer toll. Meist spielte er solo; manchmal wurde er auch von Stereo Total, Mutter, den Sternen oder Götz Alsmann begleitet. Irgendwie hatte ich den fünften Beatle aber aus den Augen verloren. Das letzte Mal hatten wir uns vor vier Jahren getroffen; als er anlässlich einer Ausstellung seiner Bilder und Objekte (wie sein geistesverwandter Künstlerkollege Daniel Johnston ist er ein Multitalent) gesungen hatte. Es war superschön gewesen und hatte sehr gut in den Dezember gepasst, den ich oft lieber November nenne, um ihm seinen eingebildeten Schrecken zu nehmen; ihn quasi auszubremsen; ich tu einfach so, bis zum 20sten, als wenn in Wirklichkeit November wäre, feier dann schön Heiligabend und lande sicher im Neuen Jahr. (»Und jetzt alle zusammen: In dem grünblauen U-Boot leben wir, U-Boot leben wir, U-Boot leben wir …«)
In der Zwischenzeit hatte einen die Lebenswirklichkeit viel beschäftigt. Dann hatte neulich im SPIEGEL gestanden, dass Beyer mit Patti Smith und Christoph Schlingensief – (in dessen Umfeld der Do-it-yourself-Künstler in den letzten Jahren häufig auftrat) – in Namibia war, um einen komischen Film zu machen und plötzlich hatte Frank Behnke, Beyers Manager, angerufen und erzählt, dass Klaus Beyer demnächst am Burgtheater in Wien wäre und kurz darauf lagen zwei neue Klaus-Beyer-Veröffentlichungen im Briefkasten: die CD Helft! und eine DVD mit dem Dokumentarfilm Das seltsame Universum des Klaus Beyer und vielen kleinen Musikfilmen und Sketchen, die Beyer in den letzten 23 Jahren größtenteils allein in seinem Zimmer gedreht hat.
Alles ist wieder sehr seltsam und schön und sollte unbedingt zu Weihnachten verschenkt werden. Die DVD bietet einen guten Querschnitt durch das Werk des ehemaligen Kerzendrehers, der sich Anfang der 70er-Jahre in die Beatles verliebte, nachdem er sie im Radio gehört hatte. Weil er die Texte nicht verstand, hatte er sich ein Englisch-Wörterbuch gekauft, um die Lieder in seine Sprache zu übersetzen. Während die revoltierenden Altersgenossen des nunmehr 53-Jährigen auch deshalb so gerne englischsprachige Popmusik hörten, weil die Eltern das nicht verstanden, übersetzte Klaus Beyer die Lieder von John, Paul, George und Ringo, vor allem auch, damit seine Mutter verstehen konnte, was die da sangen. Die beyerschen Übersetzungen sind also gleichzeitig Gesten der Versöhnung. Genau wegen dieser Geste, die sie selber oft nicht leisten wollten oder konnten, wurde Beyer in den Postpunkszenen so sehr geliebt. Und weil er er selbst sein konnte und mit seiner Kunst jeden ermunterte, selbst zu sein. Wie auch immer.
Später vertonte Beyer seine Versionen der Beatles-Songs. Mit Hilfe zweier Tonbandgeräte überspielte er die Instrumentalpassagen von jedem Stück, vervielfachte sie teilweise, damit die Länge des Stücks wieder hinhaute und sang seine deutschen Nachdichtungen darüber. Die Texte sind sehr eigen; eigentlich beyersche Variationen zu Themen der Beatles. Die aus kurzen Beatles-Samplen zusammengesetzte Musik klingt oft experimentell.
Anfang der 80er-Jahre begann Beyer dann damit, die Songs der Fab Four zu verfilmen. Mit Super-8; Einzelbild-Tricks und wunderschönen selbst gebastelten Dekorationen. Am berühmtesten wurde das ungefähr zwei mal ein Meter große Unterseeboot, das er für seinen Yellow-Submarine-Film bastelte. Außerdem verfilmte er kleine Lieder (Die Glatze lief sogar mal auf MTV) und lustige selbstausgedachte Sketche, die unter anderem von scheiternden Banküberfällen, kleinen Hunden und Kreuzberger Frauen, die lang sind (2 Meter zehn) handeln. Dies alles und mehr ist auf der schönen DVD drauf, die ich mir zuerst anschaute, weil ich mir von der Helft!-CD nicht so viel versprach. Umso begeisterter war ich, als ich sie dann hörte.
Mit den Beatles, Lass es sein, Gummiseele, Ein harter Tag, Das gelbe Unterwasserboot und die Rätselhaft magische Tour waren super. Helft! ist glaube ich noch besser.
Das Titelstück gibt es zweimal und ist das vielleicht schönste Beatlescover, das Klaus je eingespielt hat. Kristallklar, LoFi auf Hifi sozusagen klingt seine Stimme in der Studioversion. Bei der Live-Version beeindruckt vor allem, wie er mit zwei Stimmen singt, also die dramatische Anlage des Stücks noch einmal hervorhebt, sich also quasi teilt; in den, der Hilfe braucht und den, dem’s sonst ganz gut geht. Naturgetreu (Act naturally) klingt zunächst ein wenig schrammelpsychedelisch wie Daniel Johnston und ist textlich sehr schön: »… ich filme gern, weil ich mich drüber freu/ was ich film und spiele sind Geschichten/ Und alles, was ich tu ist naturgetreu«. Die Live-Version von Glücklich (I’ve just seen a face) ist sehnsuchtsvoll und sehr berührend.
Du machst mich hitzig Miss Lizzy (You make me dizzy Miss Lizzy) betont die quasi unschuldige Rock ’n‘ Roll-Seite von Beyer & den Beatles; Ja, ich glaub an gestern klingt weit melancholischer als I believe in yesterday und nach der Abmoderation – Schönen Abend noch und alles Gute im Leben – kommt einem dasselbe gleich wieder besser vor.
Dienstag, 11.12.07
Und demnächst zeigt ihr hier Stuttgart, oder was?
Schalke 04 – Trondheim war 3:1 (3:1) ausgegangen und M. erzählte den alten Karnevalswitz von dem Schalke-Fan, der, als er im Sterben lag, bei Borussia Dortmund eintrat. »Dann stirbt wenigstens einer von denen.«
Im nächsten Zug: Schachmatt!
Revanche!
Das alles muss noch durchgearbeitet werden.
Hallo Muschi.
© Alle Fotos: Detlef Kuhlbrodt