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Leonard Cohen war eigentlich die Musik meiner großen Schwester. Sie hatte ihr Zimmer neben meinem unter dem Dach und hörte manchmal die Greatest-Hits-Platte, die 1975 herausgekommen war.
Famous Blue Raincoat mochte ich am liebsten. In Schleswig-Holstein regnet es häufig. Ich hatte oft beim Trampen im Regen gestanden und mich mit dem »dam da da da da da« getröstet und von der Frage »Did you ever go clear?« fühlte ich mich gemeint und erkannt. Außerdem fand ich es toll, dass Cohen eine Weile Speed genommen hatte, weil ich zu der Zeit die Autoren der Beatgeneration so gerne las. (Erst später erfuhr ich, dass sich »going clear« auf Scientology bezog. Es ging darum, sich von unterbewussten Erinnerungen an vergangene Traumata zu befreien. Was aber auch passte, da ich gerade, wie die Beatles, mit meiner Mutter bei einem von der Volkshochschule angebotenen Kurs das transzendentale Meditieren gelernt hatte.)
Als meine Schwester schon weggezogen war und ich niemanden mehr hatte, mit dem ich zu Hause hätte reden können, hörte ich die Platte allein in meinem Zimmer, in den Weihnachtsferien. Vielleicht gefiel mir auch deshalb Sisters of Mercy ziemlich gut.
Einmal hatten wir Suzanne im Englischunterricht gehört. Ich fühlte mich ein bisschen komisch dabei, als würde etwas Intimes von mir ausgestellt werden. Es war aber auch schön, Suzanne auf den guten Boxen zu hören, die im Musikzimmer des Städtischen Gymnasiums von der Decke hingen, und dabei das Gefühl zu haben, Cohen besser als die Referendarin zu kennen, selbst wenn sie eventuell Das Lieblingsspiel oder Schöne Verlierer gelesen hatte, was ja auch wieder interessant war, weil es in den Romanen von Leonard Cohen so ausführliche Blowjob-Passagen gibt. Ich achtete aber hauptsächlich auf meine Mitschüler und ärgerte mich, wenn welche während der Aufführung miteinander flüsterten oder kicherten. Und freute mich, dass M., der sich mit Musik viel besser auskannte als ich und Free-Jazz-Fan war, Leonard Cohen respektierte.
Eigentlich galt Leonard Cohen als Kuschelmusik für Ältere und vor allem auch für Leute, die sich nicht für Musik interessierten und deren Plattensammlung aus zwei LPs bestand: den Greatest Hits von Leonard Cohen und den Greatest Hits von Simon & Garfunkel. (1981 war dann eine Cohen-Compilation unter dem verbrecherischen Titel Liebesträume: Leonard Cohen singt seine schönsten Lieder erschienen.)
Wie Kerouac, Ginsberg, Burroughs, Hermann Hesse und David Bowie gehörte jedenfalls auch Leonard Cohen zu meiner Wahlfamilie. Und wie Bowie hatte auch Cohen seltsame Seiten: Lover, Lover, Lover hatte ich ganz peinlich gefunden, weil es so einen unbeschwerten Mitsing-Sound hat und ich überhaupt nicht unbeschwert war und Liebespaare furchtbar fand, obwohl der Anfang so toll ist:
»I asked my father
I said, ›Father change my name‹
The one I’m using now it’s covered up
With fear and filth and cowardice and shame«
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Ich lebte eigentlich ein freies Teenagerleben. Meine Schwester wohnte mittlerweile in Lübeck, meine Mutter lag wegen ihrer Depressionen oft im Bett oder war in Kliniken. Einmal, als ein Lehrer zu uns nach Hause gekommen war, hatte sie mich verteidigt und ich war ganz stolz auf sie. Mit meinem kleinen Bruder hatte ich nicht so viel zu tun. Und mein Vater und ich hatten einander auch nicht viel zu erzählen.
Eine Weile war ich auch ein richtiger Hippie-Streber, las im Tao Te King und die Gedichte von Hanshan und auf meinen Schulheften war das »Yin und Yang«-Zeichen. Das erste Mal Kiffen hatte dann etwas von einer Initiation für mich. Ich war mit Freaks befreundet und schrieb in Chinakladden und trank ständig Tee. Ich hatte die Vorstellung, es gebe neben der normalen Welt noch einen Underground und überall Leute und Gruppen, die Teil dieses Undergrounds und der Gegenkultur waren. Und so ganz falsch war das ja nicht; das Netzwerk der Gegen- und Alternativkulturen war groß und man erkannte potenzielle Freunde in allen Ländern, in denen man rumtrampte.
Und Leonard Cohen gehörte eben auch zu dieser Gegenkultur: In der Cohen-Ausgabe mit Das Lieblingsspiel, Schöne Verlierer und Blumen für Hitler steht, dass er »der einzige Weisse im Schattenkabinett des englischen Black-Muslim-Führers Michael X war«. Und er selbst wird mit den Worten zitiert: »Seitdem ich fünfzehn war, stand ich auf der Seite der Outlaws. Ich hatte einiges mit den Beatniks gemeinsam, noch mehr mit den Hippies.« So ähnlich empfand ich es auch und fühlte mich eine Weile wie ein Teil der Beatgeneration.
Vom Badezimmerfenster aus sah ich zu dieser Zeit manchmal unseren Nachbarn, wie er Suzanne auf der Terrasse spielte, nachdem ihn seine Frau verlassen hatte. Er trug helle Sommerkleider. Seine brummende Stimme war ohne jede Tragik. Suzanne war seriös. Die Trauer des Nachbarn war seriös. Die Sexszenen in den Cohen-Romanen dagegen waren unseriös. Am besten gefiel mir eine, die auf einer großen Demo spielt. Interessant war auch die gegen Ende von Schöne Verlierer, wo der eine Freund dem anderen beim Autofahren einen bläst. Und dann unterhalten sie sich über die Spiritualität abgebrochener Blowjobs. Die Sexszenen bei Burroughs oder Bukowski waren eigentlich besser. Aber gerade weil Cohen so hochseriöse Lieder sang, waren seine Sexszenen wieder ganz gut. Oder umgekehrt.
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Meine große Schwester hatte mich auch in den Woodstock-Film mitgenommen: Die Aufführung war ein großes Kleinstadtereignis. Der Film wurde in der Turnhalle des Jugendzentrums »Mühle« gezeigt. Ich hatte wie hypnotisiert geguckt und war völlig begeistert und fühlte mich ganz wehmütig, als es vorbei war. Und hätte den Film am liebsten sofort noch einmal geguckt. Stattdessen standen wir auf dem Parkplatz der »Mühle« herum, ich kannte kaum jemanden, aber fand es toll, dass viele der Freaks hier so aussahen wie die Leute aus dem Film.
Mein erstes Rockfestival, das First Rider Open Air in Scheeßel, zu dem mich wieder meine große Schwester mitnahm, war hingegen ein bisschen enttäuschend: Weil statt der angekündigten 21 Bands, u. a. Jefferson Starship, nur fünf auftraten, wurde die Bühne angezündet und das Festival abgebrochen.
Und als das Zehn-Jahre-Woodstock-Festival mit Country Joe McDonald, Santana und Joe Cocker im Bad Segeberger Kalkbergstadion gastierte, war ich auch enttäuscht, weil sich die Musiker und das Publikum vor allem darum bemühten, das Woodstock-Album nachzuspielen. Auf den großen Umsonst-und-Draußen-Festivals, zu denen bis zu einhunderttausend Freaks kamen, war es genauso: Wenn es regnete zogen sich die Leute aus, wälzten sich im Schlamm und sangen den Crowd Rain Chant.
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Songs of Love and Hate, eine der traurig-düstersten Cohen-Platten, hatte ich dann erst in Berlin kennengelernt. Sie stand in der Wohnung der großen Schwester meiner damaligen Freundin, wo ich ein paar Wochen gewohnt hatte, während ich noch auf Wohnungssuche war. Nachts hatte ich an ihrem Schreibtisch an der Schreibmaschine gesessen und Avalanche und Diamonds in the Mine gehört und auf mein Gesicht geschaut, das sich im Fenster spiegelte. Das Lied mit dem Weihnachtsmann, Dress Rehearsal Rag, in dem sich der fertige Held vorstellt, sich die Pulsadern aufzuschneiden, fand ich auch toll. Vielleicht gefiel mir die Platte auch so gut, weil ich nur wenige kannte, die sie kannten. (Später bemerkte ich, dass ich eine Zeile bei Sing Another Song Boys immer falsch verstanden hatte: Statt »pawnshop of her wicked father« hatte ich immer »pornshop of her wicked father« verstanden.)
Manchmal saß ich auch im »Risiko«, der berühmten Punk-Kneipe, ganz stolz, dass ich zu den Leuten gehörte, die ins »Risiko« reingelassen wurden, und freute mich, wenn das Nick-Cave-Cover von Avalanche lief. 1988 sah ich Leonard Cohen dann in der Deutschlandhalle. Er stellte sein Comeback-Album I’m Your Man vor. Es war ein wunderbares Konzert. Ich schrieb meinen ersten Text für die taz darüber, in dem ich Leonard Cohen gegen seine Kritiker verteidigte.
Und am zweiten Weihnachtstag 1988, bei den Eltern in Bad Segeberg, lief zufällig dieses seltsame Leonard-Cohen-TV-Musical I Am a Hotel im Fernsehen, mit dem überschwänglichen Memories vom Death of a Ladies’ Man-Album und dem kanadischen Eiskunstläufer Toller Cranston – ein komplett missglücktes Liebesrumgetanze und im Hintergrund immer wieder Leonard Cohen, der dann sein Lied aus seiner extrem langweiligen Highschool-Zeit singt. Ich war total begeistert. Unter Leuten, die sich mit Musik beschäftigen, galt Death of a Ladies’ Man als Cohens beste Platte, weil die Produktion so dissonant war.
Anfang der 1990er kam dann The Future und Waiting for the Miracle. The Future war Teil des Soundtracks von Natural Born Killers und läuft darin während einer Metzelei in der Jukebox. (Leonard Cohen läuft in Filmen eigentlich immer in katastrophischen Szenen.)
Zehn Jahre später, nachdem mein Versuch, ein guter Drogenintellektueller zu werden, gescheitert war und nach einer letzten, großen, pathetischen Liebesgeschichte, entdeckte ich die beiden Lieder wieder. Waiting for the Miracle ging mir besonders nah, aber nur in der kurzen Version:
»Ah I don’t believe you’d like it,
You wouldn’t like it here
There ain’t no entertainment
And the judgments are severe«
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2008 habe ich Leonard Cohen dann ein zweites und letztes Mal gesehen. An dem Tag war ich so aufgeregt, dass ich die Fußball-Bundesliga ignorierte und stattdessen alte Platten hörte und einen langen Text in der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung las, in dem Leonard Cohen als großer, moderner Poet gewürdigt wurde: »Der große Seher« sei »der Mann der Stunde«. Sein Lied The Future von 1992 beschreibe exakt den Post-Nine-Eleven-Zustand der Welt usw.
Je näher ich der O2 World am Abend kam, desto größer wurde das teenagerhafte Kribbeln im Bauch. Entschlossen, alles toll zu finden, betrat ich das blau leuchtende Monstrum. Doch als ich mich dann irgendwo unter dem Dach, kilometerweit entfernt von der Bühne, wiederfand, war ich entsetzt: Puppenstubenmäßig, viel kleiner als Fernsehen im Handy, waren die Musiker auf der Bühne, eingerahmt von Screens, auf denen man das Gesicht des Meisters sehen sollte, der das Konzert mit Dance Me to the End of Love begann. Danach gab’s The Future und bei Ain’t No Cure For Love rannte ich wutentbrannt, enttäuscht, mit wehem Herzen los, um Verantwortliche zu finden, die mich an einen besseren Platz setzen sollten. Die Leute, die ich ansprach, waren sehr nett, aber konnten niemanden mehr erreichen. Irgendwie eroberte ich dann doch noch einen Platz, der nur noch einen Kilometer von der Bühne entfernt war, und mit Hilfe der Einbildungskraft gelang es mir zeitweise eine fragile Verbindung zu dem aufzubauen, was auf der Bühne geschah.
Die ersten Songs unterschieden sich nur minimal von den Studioversionen; ein wenig erhöhte sich die Intensität dennoch, insbesondere bei In My Secret Life vom 2001 erschienenen Ten New Songs; Who By Fire war dann der erste, sehr berührende Höhepunkt des Konzerts; eines der Stücke auch, bei dem die Frauenstimmen von Sharon Robinson und den Webb Sisters nicht kitschig klangen, sondern einen bewegenden Kontrast zu der tiefer gewordenen Stimme Cohens bildeten.
Nach etwa einer Stunde gab es eine Pause. Wir rauchten und träumten davon, die O2 World in die Luft zu jagen.
In der letzten halben Stunde des Konzerts, nachdem er fast das ganze I’m Your Man-Album, einige Hits und eine sehr schöne, stille Version von Avalanche gespielt hatte, gelang es Leonard Cohen aber, das Konzert doch noch zu etwas Gemeinsamen, ganz Wunderbarem zu machen. Absurderweise nach einer schon fast misslungenen Aufführung von First We Take Manhattan. Vieles wusste man als YouTube-Nutzer zwar schon, dennoch war es rührend: dass die Menschen – wohlgemerkt auf der ganzen Welt – bei den Zeilen »I was born like this / I had no choice / I was born with the gift of a golden voice« von Tower of Song zu klatschen pflegen; dass Cohen im Ausklang von Tower of Song, während die Webb-Sisters ihr endloses »dee doo dam dam dam dee doo dam dam dam« singen, davon erzählt, wie er die Religionen und Philosophien der Welt studiert und nie die Antwort gefunden hat, auf die Frage, was der Sinn unseres Daseins sei – »Jetzt habe ich die Antwort gefunden, Freunde. Sie lautet: dee doo dam dam dam.« –; dass es Szenenapplaus während der letzten Strophe von Hallelujah gibt: »I did my best, it wasn’t much / I couldn’t feel, so I tried to touch / I’ve told the truth, I didn’t come to fool ya«.
Immer wieder stellte er seine Band vor, immer wieder betonte er – und man glaubte es ihm –, wie dankbar er sei, hier singen zu dürfen. Vierzehn Jahre waren seit seinem letzten Berliner Konzert vergangen: damals, »als ich noch ein kleiner sechzigjähriger Junge war mit allerlei wilden Ideen in meinem Kopf«. Nach fast drei Stunden endete das Konzert. Es gab stehende Ovationen. »Don’t catch a cold – it’s chilly outside«, hatte Leonard Cohen am Ende gesagt und beschwingten Schrittes die Bühne verlassen.
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Im gleichen Jahr war die DVD mit seinem legendären Auftritt auf dem Isle-of-Wight-Festival 1970 erschienen. Die Aufnahme von Tonight Will Be Fine kannte ich noch von früher – das Stück hatte ich oft gehört, wenn alles ganz schlimm war. Das Festival, »Europas Woodstock«, hatte schon zur Dekadenzphase der Hippiekultur gehört und war aus dem Ruder gelaufen: Statt 150 000 erwarteten Zuschauern waren 600 000 gekommen, von denen die meisten kein Ticket hatten. Jimi Hendrix hatte hier seinen vorletzten Auftritt, The Doors spielten bei verdunkelter Bühne, Kris Kristofferson war von der Bühne gebuht worden; eine Sängerin hatte geweint, eine Bühne war angezündet worden. Dann kam Leonard Cohen um zwei Uhr nachts mit seiner Begleitband The Army und alle waren wieder friedlich, so die Legende. Aber mit Seems So Long Ago, Nancy, dem traurigsten Lied der Popgeschichte, stoppt man natürlich alle Krawalle. Es hatte mich immer berührt, dass Nancy sich in dem Jahr eine Kugel in den Kopf schoss, als ich geboren wurde.