Jeden Morgen steht er um sechs auf. Um halb acht muss er vor dem Haus stehen. Dann holt ihn der Fahrdienst ab, fährt ihn zu Ärztin, und sie kratzt (seit einigen Wochen schon) verfaultes Fleisch aus seinem Fuß. Jeden Vormittag. Vielleicht wird man den Fuß retten können; vielleicht auch nicht. Er hat sich an die Termine gewöhnt; sie strukturieren seinen Tag, wie das Mittagessen bei der Betreuungsstelle im siebten Stock oder die Pflegekraftbesuche.
Wir telefonieren. Soll er sich jetzt einen Toilettenstuhl besorgen lassen oder lieber die Ente? Für den Toilettenstuhl spricht, dass er dann weniger gehen muss. Er soll den Fuß ja möglichst wenig belasten. Gegen den Toilettenstuhl spricht, dass es peinlich ist vor Besuchern.
Die ersten Tage hatte er meinen Fernseher vermisst, der die halbe WM bei ihm gestanden war. Nun habe er sich wieder an seinen kleinen Monitor gewöhnt. Das sei ja auch angenehmer, so sei der Fernseher nicht so dominant. Der Fernseher läuft den ganzen Tag, damit er sich nicht so allein fühlt. Er wolle nun jedenfalls keinen neuen Fernseher mehr haben. Gestern Nacht hätte ich ihm beinahe einen bei ebay bestellt und ärgere mich ein bisschen.
Er sagt, er gebe sein Geld vor allem für Zeitungen aus. Er zählt die Zeitungen auf, die er kauft. Konkret, taz, junge Welt, FAZ, Berliner Zeitung, Neues Deutschland.
Ich würde so gerne mal wieder eine maoistische Zeitung lesen. – Dann lern erst mal Internet.
Wie wichtig einem Zeitungen doch früher gewesen waren. Oft redet er über seine Studentenzeit, als wäre das gestern gewesen.
Gern liest er auch die Zeitung der DKP aus Gießen. Aus Sentimentalität, und er freut sich an dem Optimismus, mit dem die DKP verkündet, dass sie 140 Unterschriften gegen irgendwas gesammelt hätte.
Manchmal setzt er sich mit seinen Zeitungen vor den Späti an der Prinzenstraße und trinkt einen Kaffee. Die Zeitungen dienen als Schutz und weisen ihn als Intellektuellen aus. Dazu würde ein Toilettenstuhl nicht passen.
Er sagt, du darfst auch wieder rauchen. Aber es hatte mich nicht gestört, auf dem kleinen Balkon zu rauchen.
Lass uns noch auf dem Balkon Schach spielen.
Das Spiel war unterirdisch. Mehrmals baten wir darum, Züge zurückzunehmen. Ich hatte die letzten zwei Monate jedes Spiel gewonnen. Harmlos plaudernd hatte er sich früher als ich wieder konzentriert. Plötzlich hatte ich fast verloren, der Rest wäre eigentlich nur noch Formsache gewesen.
Er sagte, gib auf!
Ich sagte, du musst das zu Ende spielen.
Er hatte keine Lust mehr, sich zu konzentrieren, oder hatte sich schon verausgabt. In einem Anfall von Schachblindheit stellte er die Dame vor seinen König, ich bedrohte die Dame mit dem gedeckten Läufer. Enttäuscht und wütend auf sich gab er sofort auf. Dann bin ich wieder nach Hause gegangen.