Freitag 21.5.18
Ich hatte nicht erwartet, die S-Bahn zu erreichen, und als sie dann da stand, rannte ich rein. Später zitterte ich, als der Kontrolleur vor mir stand. Er sagte »tief durchatmen«. Wenig später war ich am Rande von Pankow.
Es war immer noch heiß. Das Wetter veränderte sich, aber eher allmählich, auch wenn schon ziemlich viele Wolken am Himmel hingen. Ein norddeutscher Himmel in Zeitlupe, und wegen dem Sand und dem Wind stellte ich mir vor, dass da hinten gleich die Ostsee ist. Der Sommer hatte gerade angefangen.
Die Kleingartenkolonie war schon hundert Jahre alt. Wir gingen im Garten spazieren. Um etwas zu sagen, lästerte ich über Leute und freute mich über ihre Zustimmung. Eigentlich war sie es, glaube ich, die gefragt hatte, damit wir was zum Reden haben. Es ist so irritierend, was und wie die Leute posten.
Wir saßen vor dem Häuschen in der Sonne, tranken Oolong-Tee, rauchten Gras und sprachen über Michael Rutschky. Wie sympathisch die ganzen Gäste bei dem Abend für den verstorbenen Essayisten doch gewesen waren. Und wie lustig auch. Der eine Schriftsteller hatte zum Beispiel komplett unmögliche Urlaubskleidung getragen und kurze Hosen.
Später erzählte sie, an alles hätte Rutschky gedacht, der Nachlass sei geordnet und der erste Band würde wohl im nächsten Frühjahr erscheinen. Nur die Patientenverfügung hatte er vergessen.
Und dann sagte sie mehrmals, wir müssen dringend daran denken, eine Patientenverfügung zu machen.
Und dann sagte sie, wir kommen alle nach Rutschky, sind durch Rutschky geprägt; dass wir »Alltag« interessanter finden als Kunst und Kunst eigentlich ablehnen. Ein paar Jahre hatten wir darüber in der taz gestritten; wir wollten ein Alltagsfeuilleton; die anderen wollten ein richtiges Feuilleton und haben dann leider gewonnen. Und auch die FR, die Zeit und die FAZ haben dann ihre Alltagsfeuilletons (die irgendwie noch auf Roland Barthes zurückgingen) abgeschafft, und das ist nun alles auch schon zwanzig Jahre her.
Ich erzählte, wie ich mit Rutschky noch im November über Knausgård gesprochen hatte, dass er den letzten Band, den ich jetzt erst gelesen hatte, so großartig fand, und erst später sagte sie, dass sie die Bände zwar alle besäße, aber noch keinen gelesen hätte. Womit sie denn anfangen solle. Mit allem außer Kämpfen. Aber es klang nicht so, als wenn ihr Knausgård gefallen würde.
Auf dem Rückweg dachte ich, dass meine Schwester Knausgård zu männlich findet.
Sonntag, 17.6.18
Der dünne Mann fragte nach dreißig Cent. Ich zögerte kurz und gab sie ihm dann. Ich sagte »Hau rein«, und er antwortete »Lieber nicht. Das gibt sonst achtzehn Monate.« Er sah nicht wirklich gefährlich aus, nur mitgenommen, aber mit Humor.
Nach dem Spiel: Eltern und kleines Mädchen, alle in grünen Deutschlandtrikots, stehen vor ihrem Auto in der Zossener und wollen nach Hause fahren. Das blondlockige kleine Mädchen heult, die Eltern, Mitte vierzig, wirken linkisch, fast schuldbewusst; es hatte so ein schöner Nachmittag werden sollen. Sie tragen alle diese grünen Deutschlandtrikots, die fast so aussehen wie die Trikots, in denen die BRD 1972 Europameister geworden war, die beste deutsche Nationalmannschaft je, hieß es früher oft, und Paul Breitner wurden maoistische Sympathien nachgesagt. Und Erwin Kremers, mein Idol neben David Bowie und David Cassidy für ein, zwei Jahre, wurde, wie jetzt Sané, auch nicht zur WM mitgenommen, 1974.
Es hatte so ein schöner Nachmittag werden sollen, und nun ist das Kind vielleicht traumatisiert. Wahrscheinlich denkt es auch, die Eltern wären schuld, dass die deutsche Nationalmannschaft verloren hatte.
Mittwoch, 20.6.18
Plötzlich saß ein unglaublich schöner, bunter kleiner Vogel im Blumenkasten. Rot und blau und grün und gelb. Ich hatte noch nie einen so schönen Vogel gesehen. Ich hoffte, dass er bleiben würde, er flog aber gleich wieder fort.