Vielleicht später ist sozusagen ein defensives Mañana. Ein thematisch offenes Blog in der Jetztzeit mit Fotos, ein Versuch, in der Gegenwart zu schreiben. Die Gegenwart ist Berlin. Die Wege und Wände meist die gleichen wie in Umsonst & draußen. Vieles ist anders. Leute kommen vorbei. Die Fußball-WM, die wie Weihnachten oder Geburtstag immer zu früh kommt. An den Wänden gibt es Zeichen. Oder auf dem Boden. Wie in jedem Tagebuch geht es darum, sich selbst und die Welt im Blick des Anderen zu ordnen. In der Gegenwart. »Kommst du?« – »Vielleicht später«.
B. ruft an. Er ist nun in einer Klinik in Birkenwerder. Dort hätten sie seine Venen untersucht. Der Arzt habe dann gesagt: »Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute: Ihre Venen sind in Ordnung. Die schlechte: Deshalb können wir nichts machen.« Vor allem die Füße wären das Problem und zuvor nicht korrekt behandelt worden.
Außerdem würde er gerade das Buch Schweine mit Flügeln lesen (Lombardo-Radice, Marco und Ravera, Lidia. rororo 1980). Ein fiktives Tagebuch, in dem ein Mädchen und ein Junge ihre sexuellen und politischen Erfahrungen beschreiben. Die Autoren aus der Crème de la Crème des Eurokommunismus: die bei Erscheinen des Originals fünfundzwanzigjährige Journalistin Lidia Ravera, »deren Tante Camilla zu den Gründungsmitgliedern der KPI gehört«, und ihr Freund, »der siebenundzwanzigjährige Arzt und Psychologe Marco Lombardo Radice, Sohn des Ordinarius für Mathematik an der Universität Rom und Mitgliedes des Zentralkomitees der KPI«, wie es in der ZEIT heißt.
Ihn hätte überrascht, dass es vor allem ums »Arschficken« in dem Buch gehe; ich wundere mich, dass er ein vor 41 Jahren erstmals erschienenes Jugendbuch noch einmal liest, und erinnere mich an den Freund aus Segeberg, einen Landvermesser, der es mir damals empfohlen hatte. Das Buch ist sehr links, spielt aber in der Welt der Oberklasse, wenn ich mich richtig erinnere.
B. fragt, ob ich nicht Lust hätte, ihn zu besuchen; ich sage vielleicht und bin fast überrascht, eine Stunde später tatsächlich in der S-Bahn zu sitzen. Die Fahrt ist sehr schön.
Auch in Birkenwerder scheint die Sonne. Der Weg zur Klinik ist schnell gefunden. Von Weitem schon hört man Musik. Der Diskotheker heißt, glaube ich, »Gary«. Mit einem »Tag der offenen Tür« bemüht sich die auf Diabetes spezialisierte Klinik um neue Kunden.
G. sitzt in einem offenen Aufenthaltsraum in einem Ledersessel an einem Tischchen und liest Zeitung. Es gibt eine Kaffeemaschine und Kaffee für 50 Cent, eine schattige Aussicht aufs Gelände mit Gras und Bäumen und einen anderen Patienten, der in einem Krimi liest. Sein graublaues Gesicht erinnert an das von Michel Houellebecq. Er blättert nie um.
Wir reden eine Weile über die üblichen Dinge; Fußball, Zeitungen und andere Krankheiten. B. sieht besser aus als das letzte Mal. Sein Gesicht, das eine Weile geschwollen war, ist nun wieder schmaler. Seine Kleidung – eine blaue Hose und ein blaues Hemd – steht ihm gut. Erst später fällt mir ein, dass er eventuell in einem Schlafanzug dagesessen haben könnte. Zum Glück müssen seine Füße nun wohl doch nicht abgeschnitten werden.
Wir lesen Zeitung; die taz, die B.Z., die ZEIT und die Berliner Zeitung. Es ist eine große Freude, zusammen schweigend Zeitungen zu lesen. Manchmal reden wir zwei Sätze und lesen dann weiter, anderthalb Stunden; dann muss ich wieder gehen, esse draußen noch ein Würstchen zwischen den Ständen, an denen man zum Beispiel seinen Blutzucker messen lassen kann.
Mehr als zehn Jahre hatten wir uns nicht gesehen. Er erkennt mich, bevor ich ihn erkenne, und redet erstmal eine Stunde wie ein Wasserfall – genauso, wie Ende der 1990er-Jahre, als er für einige Zeit Veranstaltungen für lesende Drogenfreunde gemacht hatte: die tolle Nazis-On-Speed-Veranstaltung im Tempodrom, bei der sich Norman Ohler vor einigen Jahren bedient hatte für sein Buch Der totale Rausch; und wie der berühmte Professor schon recht dicht gewesen wäre bei seinem Vortrag und ihn plötzlich auf den Nacken geküsst hätte und dass die Filmaufnahmen mit dem Vortrag noch irgendwo rumliegen müssten. Oder der 100. Geburtstag von Albert Hofmann im Tempodrom, bei der der LSD-Entdecker nicht kommen konnte, weil er sich das Bein gebrochen hatte, aber telefonisch zugeschaltet war. Oder diese Legalisierungsveranstaltung mit Günter Arendt und Kim-will-kiffen, der sympathischen Koreanerin, die vor das Bundesverfassungsgericht gezogen war, um sich dort das Recht auf Cannabiskonsum zu erstreiten.
Mittlerweile arbeite er fest bei einer kleinen Firma, »halbwegs paritätisch besetzt – drei sind schwul, zwei heterosexuell«, die Reinigungsartikel und Klopapier an die Clubs liefere. Die Arbeit mache ihm Spaß. Am liebsten fahre er die Sachen aus. Im Hintergrund könne man denken.