»Die letzte Schlacht gewinnen wir!«, sagte der Kieferchirurg, nachdem er schon eine Weile an dem zu entfernenden Zahn gewackelt, gedreht und gefräst hatte. Vielleicht wollte er mit mir fraternisieren, vielleicht hatte er die Szene gelesen, die ich vor sieben Jahren geschrieben hatte und wo im Hintergrund der Entfernungen irgendein Wohlfühlsender wie RTL2 oder radioeins gelaufen war. (Sie hatten so clichéemäßig gut ausgesehen, und ich wie ein Penner.) Vielleicht wollte er sich auch nur selbst ermutigen, ich war ein harter Job. Eigentlich hätte aber auch der beknackte Zahn »Die letzte Schlacht gewinnen wir!« rufen können. Zweimal hatte es schon fies (und mit Ankündigung) geknackt, Teile waren abgebrochen. Bis jetzt hatte der Rest heldenhaften Widerstand geleistet.
Auf der Überweisung hatte ich erst 13 gelesen und mich gleich gefreut, dass alles so gut zusammenpasste: Die 13 war der siebte Zahn in vier Wochen, alles deutete auf Glück hin. Korrekt ausgesprochen hieß die 13 aber 1,3 – ob es beim siebten blieb, war fraglich, und genau genommen war ich auch schon fünf oder sechs Wochen in zahnmedizinischer Behandlung, und alles ergab schon wieder keinen Sinn mehr.
Es war neun Uhr, und das Fräsen klang nicht nur wie eine Kreissäge, sondern war bestimmt auch eine; nur ganz, ganz klein und sehr präzise. Außerdem spürte ich die Hälfte meiner Nase nicht mehr. Wenig später war ich zugleich überrascht und erleichtert, dass der Zahn nun endlich weg war.
Nach dem ersten Termin hatte ich mich noch peinlich überschwänglich bedankt, nach dem zweiten hatte ich das eigentlich auch gewollt, aber grad nicht richtig sprechen können.
Diesmal zog ich ein bisschen kleinlaut von dannen.
Vor der Tür des vornehmen Hauses stand eine Frau mit koreanischen Zügen und fragte, ob sie hier richtig sei. Ich nickte wortlos-solidarisch, hielt ihr die Tür auf, deutete auf meine Wange und freute mich noch eine Weile über die schöne Begegnung, während ich über den sonnigen Ku’damm schlenderte. Ich hatte etwas geschafft, obwohl ich in Wirklichkeit nur still gehalten hatte.
An der Ecke Joachimsthaler Straße standen Litfaßsäulen mit Bildern von 1968. Ein paar junge Leute machten sich Notizen. Die klassischen Motive. Demonstranten, Polizisten, Rudi Dutschke, aber auch – unter der Überschrift »Jesus war der erste Gammler« – die jungen Leute, die in den 60er-Jahren an der Gedächtniskirche herumsaßen und billigen Wein tranken und Kerouac und Burroughs lasen und dann zu den Drogen umschwenkten. »Haschisch, Opium, Heroin – für ein freies Westberlin.«
Ich habe mich viele Jahre mit der 68er- und Hippieforschung beschäftigt. Wenn ich da noch was machen will, müsste ich mich allmählich doch ein bisschen beeilen. Aber zuvor muss man ja noch die Gesundheit wieder heil machen lassen. Aber wenn das fertig ist, kann’s ja weitergehen.
Ich habe ein gestörtes Verhältnis zu Ärzten und bin ein schlechter Patient und habe auch keine Lust, mich länger mit so einem Quatsch wie meinem Körper zu beschäftigen; vielleicht habe ich irgendwann in meinem Leben mein Schmerzgedächtnis auf »Sofort löschen« gestellt und weiß nicht, wie man die Aufnahmefunktion wieder aktiviert, die es einem ermöglichen würde, die fortschreitenden Defekte korrekt zu beschreiben.
Aber eigentlich war die Aufnahmefähigkeit schon wieder hergestellt, ich genoss es sozusagen mit allen Sinnen, am frühen Vormittag über den Ku’damm zu schlendern.
Beim U-Bahnhof Wittenbergplatz stand ein langhaariger Bettler. Auf sein Pappschild hatte er geschrieben, dass er sich auch über eine Umarmung oder ein Lächeln freut. Ich guckte an ihm halb vorbei, weil ich kein Kleingeld hatte, er sagte gut gelaunt: »Aber wenigstens ein Lächeln …« Im Vorbeigehen lächelte ich zurück. – Schon wieder ein gelungener menschlicher Austausch.
Ich ging zu Fuß nach Hause, der Nollendorfplatz, die Potsdamer Straße, der Park am Gleisdreieck. Zehn oder zwanzig Frauen, teils mit Babys, bei der Gymnastik. Die Leiterin der Gruppe agierte behutsam als Gleiche unter Gleichen. Vielleicht war es eine Facebook-Gruppe? Geheimnisse der Großstadt.
Ich setzte mich auf eine der beiden Schaukeln und schaukelte ein bisschen und dachte dabei an einen Abend vor mehr als 40 Jahren. Wir waren nach A.s Geburtstag noch auf dem Spielplatz vor dem Mietshaus gewesen und hatten geschaukelt. Uns war schwindlig gewesen und dann war es darum gegangen, im richtigen Moment loszulassen, um möglichst weit zu springen. Ich schaukelte und dachte an Kurt Scheel und sprang dann eher symbolisch. Die Schaukeln erinnerten mich aber auch an Freddy Krueger.
»Ich krieg dich noch, du besoffenes Stück Dreckscheiße«, rief später ein Mann und rannte einem anderen in der Nostitzstraße hinterher. Es war schon recht aggressiv, aber nicht dramatisch.