Wer davon sprach, dass der Schutz der Synagogen übertrieben sei, war bereit, fremde Leben zu riskieren auf den baumlosen Wiesen eines Friedens, der nur für ihn, ihn alleine galt. Die Türen der Imbisse standen offen. Die Türen der Blumenhändler standen offen. Die Türen der Internet-Cafés: weit offen. Die Obst- und Gemüsestände, sogar die Schlüsseldienste ohne Schloss. Niemand, der Blumen kauft, kann sie nunmehr ohne Geisterkraut zum Strauß binden lassen. Die Stimmen der Marktschreier verbinden sich zu Klagegesängen. Die Tomaten sind schon lange nicht mehr nur rot wegen des Lycopins.
Ist dies das Land, in dem ihr Leben wollt? Die Finger an den Abzügen, höchstens aus Gründen der Rechtsprechung geahndet, bleiben ersetzbar. Andere Finger zeigen auf die Verwundbaren. Andere Finger heben sich zu den sehenden oder blinden Gesichtern und setzen sich auf die Lippen zum Schschsch. Und die Schweigenden haben das Privileg, sich auszusuchen, wann sie zu den Angegriffenen gehören und wann sie angreifen. Aber sie sind nicht die Verwundbaren, sie sind nicht die Verwundeten. Dennoch setzen sie Modellschiffchen auf die Wunden dieses Landes, und es hält sie nicht davon ab, von Gewässern zu sprechen. Diese Seen sind nicht blau. Ihr arbeitet euch am falschen Begriff ab.
In keinem einzigen Vers der Marktschreier habe ich das Wort Heimat gefunden. Das Wort Heimat tauchte auf in dem Vokabular derjenigen, die durch die offenen Türen der Schlosser traten, die an den Obst- und Blumenständen der Menschlichkeit etwas nahmen, was sie nie wieder vollständig zurückbekommen kann. Denn es gibt Dinge, die können nicht wiedergutgemacht werden. Das Wort Heimat tauchte auf in dem Vokabular eines Ministers, der sein Land mit einer Geburtstagsfeier verwechselt: neunundsechzig Geburtstagskerzen für neunundsechzig ausgewiesene Hoffnungen, mindestens eine starb.
Heimat riefen nicht diejenigen, die vom Meer her den Kontinent betraten, sie riefen Schutz – nein, sie sind nicht blau diese Meere, in denen die Scheinheiligen die Rettenden ahnden und über in Not Geratene verhandeln. Heimat riefen diejenigen, die die wassergefüllten Kinderlungen als keinen zu hohen Preis in ihrer Kostenrechnung notierten. Und diejenigen, die jahrelang die Sorgen und Analysen der Töchter und Söhne der in deutschen Straßen und Läden Hingerichteten herunterspielten. Die Töchter riefen nicht Heimat, die Bedrohten wählten nicht dieses Wort in ihren Anrufungen von Staat und Nachbar. Ein Vater bat um den Vornamen seines Kindes auf einem Straßenschild. Aber es gibt bis heute keine Halitstraße in Deutschland.
Reden wir nicht von Heimat. Reden wir von der Fähigkeit zu trauern. Reden wir darüber, was ein Mensch ist, eine Person. Nicht das Vokabular der Schießenden und Schussbereiten, sondern die Worte derer, die einen Menschen verloren und zu betrauern wussten, erzählen mir etwas über eine Zukunft, die lebenswert, über ein Zuhause, das häuslich ist, wo die Farbe Tomatenrot heißt und nicht Blutrot, wo das Meer ein Gewässer ist, nur das und nicht auch ein Massengrab.
Ich habe noch niemals geheimatet. Und ich weiß, dass auch Freiheit ein Verb ist, verkleidet als Nomen. Ich habe die Konjugation geübt, bin sprachlos geworden, habe mich versprachlicht, und das Wort war das einzige Zuhause, das gelesene, das geschriebene, ein Zuhause mit auflösbaren Konturen. Im fünfzigsten Stockwerk des Worts zog ein anderes Parkett auf, als ich einen schrägen Aufprall beschrieb. Wer fällt, den zieht es nicht sanft.
Ich weiß, jede Erzählung hat Nummern, und meine war algebraisch. Und die abhängige Variable heißt Leben. In der Gleichung meiner Erzählung konnte es keine Heimat geben, zu viel Tod steckt in diesem Begriff. Der Fetischcharakter der Heimat ist tödlich, und trotzdem verstaatlichen die Schutzverpflichteten den Fetisch. Die Schutzbefohlenen rufen ins Leere. Heimatliche Patronen schlagen ein auf sakrale Stahltüren. Das ist es, was den Klang unserer Zeit erzeugt.
In meiner Gleichung heißt die abhängige Variable Leben und die unabhängige Menschlichkeit. Das Sprechen lernte ich von denen, die das Unsagbare notierten, als es hieß, Poesie sei nicht mehr möglich. Kein Geknatter von Gewehren und selbstgefälligen Stimmen darf dieses Flüstern übertönen, das die Farbe des Meeres als Blutstrahl zu beschreiben weiß – auch im Mondlicht, wo andere nur schwarzweiß sehen. Die Anklage einer Tochter, nicht nur, weil der Vater ihr genommen wurde, sondern auch die Möglichkeit zu trauern. Von ihr will ich lernen, was trauern heißt. Von den Gebeten der Überlebenden an Jom Kippur möchte ich lernen, was es heißt, das Leben zu feiern. Eine Gesellschaft, die fällt, hat die Freiheit eine Gesellschaft zu werden, die auffängt, aber: »Freedom is a verb« – Freiheit ist ein Verb.