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Der erste Arbeitstitel des Romans lautete Die Lebenden. Die ersten Sätze schrieb ich im Sommer 2015. Das Jahr hatte mit dem Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo in Paris begonnen. Es endete (in Europa) mit den Anschlägen am Abend des 13. November 2015 in Paris, im Bataclan und an anderen Orten der Stadt – der Terror drang tief ins Herz Europas. In Reaktion auf diese Gewalt spitzte sich die Islamdebatte zu: gehört »der Islam« zu Europa, ist der muslimische Glaube mit »europäischen Werten« vereinbar etc.
Für mich, dessen Eltern zwar nicht religiös waren, sich aber immer als Muslime verstanden haben, der ich in Deutschland aufgewachsen bin und in Paris gelebt habe, schien diese Diskussion am Ursprung des Grauens, falls es so etwas gibt, vorbeizuführen. Ich spürte, dass die Gewalt in Paris und anderswo, dass der Exodus vieler junger Menschen aus Frankreich, Deutschland, Belgien und England in die Hölle eines selbst ernannten »Islamischen Staats« in Syrien etwas mit Europa zu tun hatten.
Doch ich wollte weder nach theologischen Antworten suchen noch alleine nach soziologischen. Antworten auf die Frage: Was ist es in uns, das das Potential hat, die Gesellschaft und mit ihr uns selbst auslöschen zu wollen? – Alice Walker fragt in ihrem Gedicht Nichts ist richtig sinngemäß: Was ist es, das die Umarmung nicht aus der Mode brachte? Ich fragte: Was ist es, das die Umarmung so sehr bedroht?
Im Mikrokosmos einer von Anfang an beschädigten Freundschaft suchte ich im Roman nach den Konsequenzen fehlender und verfehlter Umarmungen. Von Anfang an beschädigt, weil die Bedingungen des Lebens und Überlebens, des Aufwachsens in ein und demselben Land so grausam unterschiedlich sein können – die Unterschiede zwischen Ramón, der in Berlin-Hellersdorf aufwächst, von seiner Mutter nicht geliebt wird und auch nie in den Genuss erster jugendlicher Liebe kommen durfte, und Vince, der, behütet und privilegiert in Westdeutschland aufgewachsen, stets mit dem Wissen, alle Türen würden ihm offen stehen, zum Studium nach Berlin zieht, und schließlich Kara.
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Kara, der Ich-Erzähler des Romans, hat mit Vince, seinem besten Freund, Wirtschaft studiert und während des Studiums auch Ramón kennengelernt. Ramón, der durch alle Prüfungen fiel, der das Studium abbrach und ein anderes begann und auch dieses wieder abbrach – wie zuvor den Zivildienst, eine Ausbildung, die wenigen Freundschaften, die er hatte.
Kara ist Ökonom. Reflektiertes und deshalb rationales Handeln ist ein Credo der Aufklärung, und unter den Geistes- und Sozialwissenschaften ist es die Ökonomie, die am stärksten vom Menschen als rationalem Akteur ausgeht und ihn auch als solchen produziert: als abwägenden Menschen. Das Ringen von Karas Poesie mit seinem mathematisch-analytischen Blick ist in gewisser Weise auch eine Allegorie für den Konflikt zwischen Romantik und Aufklärung, der sich im Intellekt des gegenwärtigen Europäers fortschreibt.
Kara ist als Angestellter einer Versicherungsanstalt damit betraut, die Kosten des Lebens zu berechnen: Worauf verzichten wir, um das Leben zu führen, für das wir uns entschieden haben? Welches mögliche Ich haben wir aufgegeben und geben wir tagtäglich auf für das Ich, zu dem wir geworden sind? – Während Karas Flug in ein schweres Gewitter gerät und er sich vorstellt abzustürzen, empfindet er plötzlich Ruhe, jede Eile ist mit einem Mal unnötig. Diese Aufhebung des Zeitmangels, dieses Paradox, lässt Kara nicht mehr los und vertieft seine existentiale Krise. Er erträgt die Leere der Wohnung nicht, in der er alleine wohnt, seit Vince vor kurzem ausgezogen ist, und macht sich auf die Suche nach Ramón.
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Vince und der Außenseiter Ramón, der während der Studienzeit bei Kara und Vince ein und aus geht, stehen auch für zwei mögliche Lebensformen, zwischen denen Kara ein Gleichgewicht sucht: Auf der einen Seite ist Vince, der kaum schläft, viel arbeitet, noch mehr feiert und trotz allem eine Familie gründen will, der mit seiner schwangeren Freundin zusammenzieht, dabei aber weiterhin Nächte mit anderen Liebschaften verbringt. Auf der anderen Seite ist Ramón, der Jungfrau ist, sich den Tod der Passanten ausmalt, keine echten Freunde hat, sondern nur Beziehungen zu dubiosen Menschen pflegt. Rausch und Amok sind mit diesen beiden Figuren für Kara ganz nah beieinander, das Kapital und Gott nur zwei Tunnel, die in denselben Abgrund führen. Karas Berechnungen münden im Ergebnis: »Im Gleichgewicht entspricht das Leben dem Tod.« Und: »Im Gleichgewicht herrscht Stillstand.«
Das Gefühl aus dem Flugzeug, dass die Zeit sich kurz vor dem möglichen eigenen Tod ausdehnt, obwohl sie sich objektiv verkürzt, durchdringt Karas Denken und Sprechen. Vergangenheit, Gegenwart und mögliche Zukunftsalternativen beginnen in seinem Bewusstsein parallel zu existieren. Der Roman überblendet die Gegenwart mit Bildern aus der Vergangenheit, der Zukunft und umgekehrt. Aber nicht nur das: Auch das Reale und Irreale überblenden und verbinden sich.
Formal versucht der Roman damit etwas Unmögliches: die Aufhebung von Zeit. Wenn es den Glauben an das ewige Leben nicht mehr gibt, lässt sich vielleicht ein Stück Ewigkeit im begrenzten Leben finden? Die Antwort Camus’ lautet: durch Erfahrung. Wenn Dauer nicht möglich ist, dann Intensitätgege. – Schreiben kann ein Weg zu dieser Intensität sein. Denn schreibend kann ich Erfahrungen vervielfachen, Erlebtes noch einmal anders oder neu erfahren. Dieser Roman versucht, das Erfahren, diese Überführung der Ewigkeit in ein endliches Leben, auf die Spitze zu treiben und aus dem Prozess des Schreibens in das des Lesens zu tragen und dabei das Irreale als dem Realen ebenbürtigen Teil des Lebens aufzuspüren. Hierfür müssen aber einige gängige Grundsätze des Erzählens an verschiedenen Stellen gebrochen werden, allen voran die Bestimmtheit von Zeit und Ort. Werden diese Grundsätze vorsichtig, fast sanft und unter bestimmten Bedingungen gebrochen, kann der Roman vielleicht ein zusätzliches Angebot unterbreiten: nämlich ein Medium zu sein, dass das ewige Leben – oder mit Dostojewski: das lebendige Leben – im Jetzt spüren lässt. Die Gattung des Romans also erheben zu einem Ausweg aus der Sinnleere unserer Zeit, eine weitere Form der Radikalisierung neben der religiösen-nationalen und der kapitalistisch-selbstoptimierenden, nämlich eine sprachlich-erfahrende Radikalisierung, die im Gegensatz zu den beiden anderen Formen unschädlich ist, weil sie sich dem Menschen zuwendet und nicht seine Zerstörung sucht oder riskiert.
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Was am Ende bleibt, ist die Verantwortung, unsere Verantwortung. Die Verantwortung für den anderen. Die Verantwortung dafür, sich zu kümmern, zu wissen, teilzunehmen, Anteil zu nehmen. »Wie konnte uns das egal sein, wie konnten wir ignorieren, dass ein Typ, der fast sechs Jahre mit uns gelebt, der unser Essen gegessen, der in unseren Räumen geschlafen hat, mit dem wir durch die Stadt gelaufen sind, der uns nachts geweckt hat, wie konnten wir nicht mitbekommen, dass der plötzlich weg war?«, heißt es in Gegen Morgen.
Wenn Ramón sich auf dubiose Menschen einlässt, sind dafür nicht auch Vince und Kara mitverantwortlich? Wenn sie tatsächlich die einzigen Freunde von Ramón sind, wie weit reicht ihr Interesse für ihn? Ist ein Leben nicht ein verfehltes Leben, wenn die Beziehungen darin irrelevant sind? Ist eine solidarische Gesellschaft möglich, in der Zuneigung nicht verbindlich ist? Viel banaler formuliert: Eine Gesellschaft, in der Freunde nicht aufeinander aufpassen, ist vielleicht verdammt dazu, zu zerbrechen. Wo der Kuss fehlt, ist der Hieb nicht fern. Aber welche Freundschaft ist möglich in Zeiten gesellschaftlicher Instabilität und emotionaler Unsicherheit? In Zeiten der Optimierung und des Selbstbezugs? Auch in Zeiten des Verdachts. Und in Zeiten, in denen die Projektion immer droht, Wirklichkeit zu werden.
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In einigen Phasen während der Arbeit am Roman habe ich mir diese seltsame Wohngemeinschaft von Vince, Kara und Ramón als eine Allegorie auf Europa vorgestellt: Vince und Kara nehmen Ramón auf, aber sie sind überheblich, selbstgefällig und paternalistisch, auch wenn ihre Absichten und die Hilfe, die sie Ramón anbieten, nicht zu jedem Zeitpunkt unehrlich sind. Wenn Vince Ramón einen Job in der Bibliothek verschafft, zieht er daraus zunächst keinen Vorteil, außer jenem der Selbstvergewisserung, zu den Guten zu gehören.
Karas Identität bleibt mehrdeutig. Der Name ist ungewöhnlich. Er könnte türkisch sein und schwarz bzw. dunkel bedeuten, aber im Roman gibt es eine Stelle, die darauf verweist, dass er aus dem Mittel- oder Althochdeutschen kommt und Kummer oder Reue bedeutet. Kara besucht nach der Notlandung in Hannover seine Mutter, die in der Art ihrer Fürsorge, ihrer kulinarischen Mühen etc., eine türkische Mutter sein könnte – aber muss sie das? Urlaube in der Türkei werden erwähnt, aber auch in Italien und Frankreich. Und doch ließe sich beispielsweise eine Analyse der Kritischen Weißseinsforschung auf den Text anwenden, und es würde sich zeigen, dass die Figuren an unterschiedlichen Stellen unterschiedliche Identitäten performen – am eindeutigsten ist hier Vince mit seiner Performanz des Weißseins. Kara könnte hingegen in einem Spannungsfeld zwischen kritisch-migrantischem Emanzipationsbegehren und internalisiertem Weißsein gelesen werden. Oder er könnte als Teil der Mehrheitsgesellschaft gelesen werden, der beginnt sich selbst und seine Verantwortung für den anderen sowie den Schaden, den er beim anderen angerichtet hat, kritisch zu hinterfragen.
Dass die Identitäten so wenig eindeutig gezeichnet sind – und dies gilt auch für Ramón –, liegt vor allem daran, dass diese Identitäten im Bewusstsein der Figuren keine Bedeutung haben. Das Unbewusste hingegen entlädt sich jenseits expliziter identitärer Rollenzuschreibungen.
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Der Roman ist auch die Geschichte einer Gesellschaft, die schlaflos ist und damit recht hat. Weil ihre Mitglieder damit beschäftigt sind, abzuwägen und zu optimieren, es verpassen für- und miteinander zu sein – und das heißt nichts anderes als das Leben selbst zu verpassen, und das wiederum könnte, vielleicht mehr als alles andere, die zerstörerischen Potentiale der Gesellschaft aufdecken.