Mit jedem Kilometer, den ihr euch meiner Stadt nähert, ihr Unsichtbaren, ihr Felsen, ihr Staub, ihr Bärte, mit jedem Kilometer, meine verlorenen Brüder, vertrieben, ausgespuckt, gescheitert, aus den Straßen Berlins, aus den Straßen Londons, aus Paris, wird es mir klarer. Die Hand, die ich euch entgegenstrecke, reicht nicht weit genug. Die Hand, die ich euch entgegenstrecke, sucht einen Kolben, sucht einen Lauf, mit jedem Kilometer, den ihr meiner Stadt entgegenkommt. Ich habe gehört, eure Gewalt bekehrt die Bekehrten. Ihr seid so erbarmungslos, dass die Erbarmungslosen fliehen. Ihr rupft Köpfe von Wirbeln, reißt lebendes Fleisch aus den Sehnen, schneidet Bäuche auf, häutet. Ihr nähert euch meiner Stadt. Was euch niedergeworfen hat, dass ihr so aufbegehren müsst, hat auch mich zerstört. Aber das verbindet uns nicht mehr.
Die Herren fürchten eure Gewalt. Zitternd folgen sie euren Untaten, deren Aufnahmen ihr stolz ins Netz speist. Ich habe keine Angst vor euch, vor euren Messern, vor euren Waffen. Meine Exekution wurde vor meiner Geburt vorgenommen: So wie ihr bin ich in diesen Straßen aufgewachsen, bin dem Hass dort begegnet, wo er euch erobert hat. Ich bin ein Kind jener Schule. Einer Schule, in der sie dich Fehler suchen lassen, die unmöglich zu finden sind, weil die Grammatik nicht im Aufgabenheft steht, sondern in dir. Sie korrigieren nicht deine Hausaufgaben, sie korrigieren dein Dasein. Ich habe mich gegen die gestellt, die sich gegen euch stellen. Jetzt trete ich an ihre Seite, ihr lasst mir keine andere Wahl. Ich habe versucht, euer Lehrer zu sein. Mit Mitte dreißig, ein nutzloser Soldat, kann ich euch nicht helfen. Es heißt, ihr schließt euch denjenigen an, die meine Stadt angreifen. Das letzte Dorf vor der Grenze sei bereits umzingelt, es solle ausgerottet werden. Ich bin die Ausrottung, auf die ihr trefft. Ihr kommt mit Panzern und Kanonen, mit Raketen und mit stumpfen Messern. Mit Gebetsrufen und Predigten. Ich erwarte euch. Die fünftausend Jahre alten Steine meiner Stadt. Die fünftausend Jahre alten Steine dieser Stadt könnt ihr nicht verdauen. Die Lehrgebäude der Artuqiden, das Feuer von Ahura Mazda, die Schlangenkönigin Schahmaran, der Vogel Simurgh, das Minarett der Ulu Camii, das Grab meines Großvaters. Die Götter, die ich nicht kenne, weil ich das Kind der Schule der Leugnung bin. Ich lese die Schändung meiner Stadt aus den Zeitungen wie die Politiker die morgendlichen Nachrichten oder wie ein Makler die Prognosen. Zur Hölle mit den Zeitungen! Die fünftausend Jahre alten Steine dieser Stadt könnt ihr nicht verdauen.
Mustafa, bitte ruf an.
Ich höre, wie meine Zeit abläuft: Das nur scheinbar gleichmäßige Ticken der Uhr kündigt es an. Da sind Zettel an der Wand: Einkaufslisten, Monate alt. Die Zwiebeln, die für mich bestimmt waren, hat jemand anders gegessen. Das Foto der Geliebten. Ich hatte es nicht übers Herz gebracht, es abzuhängen, konnte es nur umdrehen. Jetzt hängt es seit Jahren falsch herum neben den nutzlos gewordenen Einkaufszetteln. Ich bin fünftausend Jahre alt und warte auf Halbwüchsige.
Ruf an, Mustafa.
Schergen, die ich erzog. Euer letzter Schwur wird mir gelten. Und dann wird, was Lehrer war, Henker sein.
Ich habe es versucht. Ich dachte, wir könnten hier leben. Lag ich so falsch? Ihr wollt eure Wurzeln verteidigen, indem ihr sie ausmerzt? Indem ihr den Boden eurer Vorfahren schändet? Indem ihr Menschen, die nichts mit eurem Kampf zu tun haben, vernichtet? Es gehe nicht um Schändung, sagt ihr. Es gehe um Gott. Es gehe darum, der Blasphemie ein Ende zu setzen. Und Blasphemie heiße, wenn sie einem die Luft zum Atmen nehmen. Sagt, habe ich euch die Luft genommen? Jetzt werde ich sie euch nehmen. Es steht in den Zeitungen, es steht in den Einträgen alter Freunde, euer schmutziges Heer nähert sich meiner Stadt. Meine Cousine ist bereits aufgebrochen. Ich vermisse sie und vermisse es, über sie zu wachen, während ihres unruhigen Schlafs. In der Stadt der Ausgespülten. Die Mutter der Verwaisten. Ich vermisse es, sie zu verlassen, für Jahre, mit ihrem Tuch in meiner Tasche, nicht wissend, wie sie aussehen wird und wie ich aussehen werde, wenn wir uns wiedersehen. Sie ist verschwunden, heißt es, aber ich weiß, wo ich sie finde.
Ihr könnt diese Steine nicht verdauen. Ich verdaue euch. Ihr löst euch auf in mir, wie Butter in Salpeter. Ich zersetze eure Vorstellungen. Es dauert nicht mehr lange.
Ich habe gehört, sie schaffen die Parks ab. Sie schaffen die Straßen ab. Sie schaffen das Du und Ich ab. Jeder versucht sich selbst zu retten. Jetzt steht ihr vor den Toren meiner Stadt. Mit Bart und Messer, mit Panzer. Und hier: Die Barbiere haben neue Cremes bestellt, es heißt, sie wirken besonders bei dichtem Barthaar und hinterlassen keine lästigen Spuren im Gesicht. Ich habe schwarze Kapuzenpullover gesehen – Gottes Name in weißer Kaligraphie auf der Brust, in den Katalogen von Boutiquen, die Renaissance der Pumphosen. Ihr scheint damit Erfolg zu haben. Das alles findet jetzt ein Ende. Wo es endet, trefft ihr auf mich.
Du hast versprochen, du rufst an, Mustafa. Vor einigen Monaten noch war das alles so weit weg.
»Was heißt Wahrheit?«, fragtest du in unserem Hinterhof vor den Hausfassaden mit den Einschusslöchern.
»Die Wahrheit liegt in dir«, sagte ich, »und in mir. In allen Dingen.«
»Manchmal habe ich das Gefühl«, sagtest du, »hier ist sie besonders schwer zu finden.«
»Such in dir selbst, Mustafa«, sagte ich, »versuch zu klären, was du von diesem Leben willst.«
»In mir selbst? In mir selbst finde ich nur, dass ich nicht ich selbst sein darf.«
Gleich neben den Einkaufslisten und dem umgedrehten Foto hängt noch der erste Entwurf deines Logos für unser Jugendzentrum: der betrunkene Storch. Die anderen Kinder hatten dich ausgelacht: »Dich hat wohl der Storch gebracht, Mustafa?«
Ich betrachte die Rückseite des Fotos der Geliebten. Sie war noch Studentin, als ich sie kennenlernte. Ich hatte den Sommer bei meiner Cousine verbracht, dann hatte ich mich bei der Armee gemeldet. Viel später wohnte die Geliebte mit ihrer Tochter, dem Honigfässchen, bei mir. Nichts war schöner, als mit der Kleinen zu spielen. Du kannst das, sagte ich mir, du kannst da sein, du kannst für sie der Bruder sein, der dir gefehlt hat, helfen, die Jahre des Siechens zu überspringen. So traf ich auf dich, Mustafa, und auf euch. Und dann kam der Tag, an dem ich das Bild an der Wand drehen musste und in unser Zentrum kam und im Hinterhof stundenlang die Einschusslöcher zählte. Ihr habt euch zu mir gesetzt, Mustafa. Du hast dich zu mir gesetzt.
Der betrunkene Storch sieht mich an. Ich trinke Port. Aus einer Flasche, die schon lange auf dem Küchentisch verstaubt. Ich mag keinen Alkohol. Nach der Armee fiel ich zurück in den Suff, aus dem ich kam. Die einzigen nüchternen Momente: das tägliche Auseinandernehmen und Säubern meines Gewehrs. Nie werde ich den Schreck der Geliebten vergessen am Morgen unserer ersten Nacht. Sie suchte mich in der Wohnung und fand mich vor den Bauteilen meines Gewehrs. Dabei war es gar nicht geladen. Mir geht es nicht ums Schießen. Ich weiß, dass ich euch nicht aufhalten kann. Ich lege Schaft und Gehäuse auf den Tisch. Ich putze.
»Wir melden uns. Wenn wir fahren, melden wir uns«, das letzte Versprechen, das ich euch Verblendeten noch aus den Bärten zupfen konnte. »Schwört ihr?«, rief ich. Das Schwurkontingent eines Gläubigen ist begrenzt, hörte ich euch zischen. Ich schrie: »Schwört, dass ihr nicht in seine Fußstapfen tretet.« Wie ihr gestarrt habt: ohne Bewegung, wie Fische. Im Halbdunkel des Raums glänzte die Phosphorhaut auf. Ich schrak zurück: Antlitze von Fischen.
Du hast uns erkannt. Wir sind Fische, sagtet ihr, ab jetzt schweigst du besser.
»Fische«, rief ich, »Fische«, wiederholte ich, immer wieder: »Fische, Fische, Fische.«
Hinter den Bärten erkannte ich ein abschätziges Lächeln. Blicke, die mich einkreisten wie Fliegen, immer näher an mich herankamen, obwohl ihr euch nicht bewegtet. Ich trat zurück.
»Ich will, dass ihr schwört«, sagte ich, »schwört, dass ihr nicht geht. Ihr wisst nicht, was ihr tut.«
Jetzt war ich mir sicher, ein Grinsen verbarg sich hinter euren Bärten, unter euren ausdruckslosen Augen, unverkennbar: euer Belächeln.
Phosphor im Raum, Augen, die kein einziges Mal blinzelten.
In eure Hefte habt ihr gezeichnet: Busse mit Bart und Flinte. Ihr habt Tränen gelacht, als ich die Bilder entdeckte, wie Kinder, die einen Penis auf die Tafel malen und sich über das errötete Gesicht ihres Lehrers freuen. So unschuldig ist euer Töten? Wer sind die Ungläubigen? Ihr fahrt mit Bussen über die Grenze und kehrt zurück mit Panzern. Ich erwarte euch vor den Toren meiner Stadt. Ich setze mich in das Adlernest, so nennt man die Burg meiner Stadt, deren Mauer sich wie eine Schlange um den Gipfel eines Berges windet. Ich bin es, den ihr in eurem Zielfernrohr winken sehen werdet. Du hättest alles schaffen können, Mustafa. Und ich hätte es gern mit dir geschafft.
Das Telefon klingelt, und es klingt wie das erste Geräusch seit Jahren. Ich stelle mich vor den betrunkenen Storch.
»Ich höre, Mustafa«, sage ich. Er sagt: »Es ist so weit.«
Das Rauschen der Leitung im Ohr. Lange.
»Gott ist groß.«
Ausgezeichnet mit dem Preis der Schüler-Jury beim Kranichsteiner Literaturförderpreis 2014. Zuerst erschienen in: F.A.Z. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.12.2014, S. 20