I
Ich habe sie nie gesehen.
Als sie starb war ich 18 Jahre alt, und sie war 39.
Ich schrieb damals, veröffentlichte Gedichte, aber von ihr hatte ich nie gehört.
Ich zog nach Berlin, da war ich 20 Jahre alt, und veranstaltete Lesungen in einer Kneipe, von ihr wusste ich immer noch nichts. Freunde und ich luden Autorinnen ein, die auf Deutsch schrieben, aber mehr als eine, manchmal sogar viele Muttersprachen hatten. Wie auch Aglaja Veteranyi, die fragte:
SPRICHT GOTT FREMDE SPRACHEN?
KANN ER AUCH AUSLÄNDER VERSTEHEN?
Sie wurde in Bukarest geboren. Als sie fünf Jahre alt war, floh ihre Familie aus Rumänien. Wohin? Zwischen die Länder. In die Manegen. Auf die Seile der Akrobaten, die sich zwischen die Sprachen spannen lassen.
In Madrid bekam das Kind Aglaja ein Schamhaar-Toupet zwischen die Beine, die sie nackt fürs Publikum spreizte.
Sie war fünfzehn Jahre alt, als sie und ihre Familie in die Schweiz kamen, hatte keine Schule besucht, sprach rumänisch und spanisch, konnte aber nicht lesen, nicht schreiben – die vielen Ortswechsel, das Geld, die Familie. Aglaja, die Autodidaktin: Sie rettete ihre Zunge selbst. Wie Elias Canetti vor ihr – er kam damals aus Bulgarien in die Schweiz – stopfte sie sich in großen Stücken Deutsch in den Mund.
Sie wurde Schauspielerin, ließ sich ausbilden, bildete andere aus, bis zum Schluss. Bis ins Jahr 2002. Veröffentlichte Prosaminiaturen in Zeitschriften mit ausgefallenen Namen: Nebelspalter, Die Affenschaukel, Krautgarten, Hundspost, AgoNie. Ihre Miniaturen hießen »Prosastückli«. Sie hatte schon seit zehn Jahren veröffentlicht, gelesen und gestreut. Sie war 37 Jahre alt, da kam Warum das Kind in der Polenta kocht.
II
Jetzt wurde sie gefeiert in der Literaturszene, als Newcomerin, neuentdeckt, sie, die ihre Tanzseile schon vor langer Zeit von Zunge zu Zunge gebunden hatte. Jetzt trat sie beim Bachmannpreis auf. Jetzt stand sie in den Zeitungen. Was muss sie sich gedacht haben, die mit 37 ein Leben für zwei oder fünf gelebt hatte, die mit fünf Geflüchtete war, mit zwölf spanische Stripperin, mit 15 Analphabetin, mit 25 Schauspiellehrerin, mit 30 Geschichtenerzählerin und mit 37 junge Star-Debütantin.
ICH SCHREIE NICHT.
ICH HABE MEINEN MUND WEGGEWORFEN.
Ihre Texte erreichten mich erst Jahre nach ihrem Tod. Sie war eine Newcomerin, und doch reicht es nicht ein Star zu sein, um nicht vergessen zu werden.
Das eine ist der Markt.
Das andere ist die Ahnengalerie der Dichterinnen.
Das andere ist die Suche nach einer Poesie der Solidarität.
Das andere sind fragile Verbindungen.
Dichter werden dann zu Goldfischen, die in verschiedene Aquarien verteilt nichts von ihren Gefährten wissen.
Oder wissen die Halter der Aquarien, die tierquälenden Riesenbabys, nur nichts von der Geheimsprache der Fische, die Wasser und Glas durchschreitet?
Denn ich kannte Aglaja Veteranyis Stimme schon, bevor ich sie zum ersten Mal hörte.
So ging es mir mit der Aufnahme einer Lesung von ihr aus dem Jahr 2000, nach der Veröffentlichung ihres Romans – diese Stimme ist schon immer da gewesen. Vielleicht wird ja bei einigen wenigen Autorinnen und Autoren auch der Klang ihrer Stimme in ihre Texte hineintransportiert.
III
Wie ich das erste Mal der Poesie Aglaja Veteranyis begegnet bin, könnte etwas über die Fragilität einer literarischen Ahnengalerie erzählen, die weder durch einen Kanon geschützt ist noch vom Markt, denn das einzig Beständige in der Marktgesellschaft ist der Markt selbst. An anderer Stelle habe ich diese fluide Ahnengalerie als »Archiv der Migration« bezeichnet. Aglajas Roman war ein Verkaufserfolg, wurde geliebt vom Feuilleton. In jenem unsichtbaren Archiv, das nur existiert, solange es gedacht wird, fand ich ihn nicht.
Aglaja Veteranyi war schon seit neun Jahren tot, und ich hatte im Ballhaus Naunynstraße in Berlin-Kreuzberg eine Lesung zu Audre Lordes Zami. Eine Mythobiographie eingerichtet. Nach der Lesung traf ich an der Bar des Theaters eine Bekannte: Berivan. Sie war begeistert von der Kraft Audre Lordes, von ihrem literarisch-politischen Selbstbewusstsein.
Mein Exemplar von Zami war voller Notizen, auch Streichungen und Markierungen. Ich hatte es für die Vorbereitung dieses Abends verwendet. Ich drückte es ihr in die Hand.
Im Gegenzug drückte sie mir ein anderes Buch in die Hand: Warum das Kind in der Polenta kocht. Ihr Buch war ein Geschenk an sie, jemand hatte eine Widmung hineingeschrieben –Beri, für Gespräche, die wir hatten + noch haben werden … : ) –; mein Buch war voller Notizen, die ich brauchte, wenn ich noch einmal eine Lesung aus Zami planen würde. Aber beide wussten wir, dass dieser Tausch jetzt stattfinden musste.
Ich weiß nicht, ob es Zufälle gibt, aber diese Begegnung war keiner. Weder die zwischen mir und Berivan, durch die ich von Aglaja Veteranyi erfuhr, noch die Begegnung zwischen diesen beiden toten Frauen: Audre Lorde, die afro-amerikanische, feministische Poetin und Literaturwissenschaftlerin, und Aglaja Veteranyi, die autodidaktische, geflüchtete Sprachkünstlerin. Ich weiß nicht, ob sie zu Lebzeiten voneinander wussten. Audre Lorde hatte Aglaja sicher nicht gelesen. Aglaja vermutlich nicht Audre Lorde.
Die afro-amerikanische Dichterin war in den 80er und 90er Jahren nach Berlin gekommen. Hatte darüber gestaunt, dass es keine Schwarze Literaturszene in Deutschland gab, dass das Wort Rassismus nicht verwendet werden durfte. In kurzer Zeit hatte sie schwarze Studentinnen um sich versammelt, die bald zu einer feministischen afro-deutschen Bewegung wurden. Die vielleicht bekannteste unter diesen Frauen war die Dichterin May Ayim. Zwei Jahre älter als Aglaja war sie und starb fast sechs Jahre früher. Einer ihrer Lyrikbände heißt blues in schwarz weiß. Auch ihre Stimme war so wie Aglajas voller Zartheit und Humor und tiefer Traurigkeit, heilend, aus einer beschädigten Welt.
IV
Mit ihren radikalen Prosaverdichtungen.
Mit den Bildern, die sie in die Luft warf und die Druckflecken auf Buchpapier wurden mit mehr weißen als unbeschriebenen Flächen.
Mit ihrem schmerzlichen Humor.
Mit all dem fand Aglaja eine Sprache, die so dicht war, dass sie hätte zerbrechen können. So wie manchmal Geschichten zerbrechen bei Grenzübertritten: Ein Teil geht verloren, etwas Neues kommt hinzu.
Mit ihrer Wärme in der Sprache – die sie nicht hindert, Geschichten voller Grausamkeit zu erzählen – zeigt sie der deutschen Literatursprache einen Weg, ihre Angst vor Pathos zu überwinden. Wegen der starken Reduktion bleibt kein Raum zum Lamentieren, und doch öffnet sich eine Poesie, die Gefühl und Traurigkeit zulässt, ohne diese ironisch brechen zu müssen – an den ironischen Brüchen fehlt es nicht, aber sie kommen nicht aus Angst, sondern als Antwort auf eine absurde Umwelt:
WIE VIELE AUSLANDE GIBT ES?
GOTT BESCHÜTZE EINEN VOR DER HEIMAT.
Die Reduktion führt nicht zu einer Verdichtung, die keine Prosa mehr zulässt, im Gegenteil, Aglaja Veteranyi bleibt Erzählerin, und während ich den Bildern und Versen und dem Klang folge, merke ich kaum, wie mir eine große Geschichte erzählt wurde.
Mit dieser Öffnung der deutschen Sprache – ohne dafür auf ein mehrsprachiges Schreiben zurückgreifen zu müssen und ohne dass das vielleicht ihre Absicht war – ist sie auch Teil einer Gegenwartsliteratur geworden, die die Sprache nach ihren »emotionalen Kapazitäten« abtastet. Teil dieser Literatur ist sicher auch eine Emine Sevgi Özdamar, ein José F. A. Oliver, ein Zafer Şenocak, eine Marica Bodrožić. Und so, mit dieser literarischen Ankunft in der Welt, lebt sie in ihr fort. Nicht durch Kanonbildung, nicht durch Markt, sondern vor allem durch Autorinnen und Autoren, die nach ihr gesucht haben, weil sie notwendig war und ist. Zum Beispiel in Sasha Marianna Salzmanns Roman Außer sich, in dem es ums Suchen geht, in dem es um die Überschreitung von Grenzen geht, Länder-, Geschlechts- und Identitätsgrenzen.
V
Zu Lebzeiten hat Aglaja nur ein Buch veröffentlicht, das Polenta-Buch.
Posthum erschienen zwei weitere Bücher. Einmal ihre gesammelte Kurzprosa: Vom geräumten Meer, den gemieteten Socken und Frau Butter. Sowie Das Regal der letzten Atemzüge, ihr zweiter Roman, der die Protagonistin aus dem Polenta-Buch als Erwachsene weiterbegleitet, bei dem es aber vor allem um den Tod der Tante geht. In beiden Romanen arbeitet Aglaja Veteranyi mit ihrer Autobiographie. Auch sie selbst, wie ihre Protagonistin, habe unter dem Tod der Tante, die ihre Bezugsperson gewesen sei, gelitten.
Aglaja Veteranyi hat sich in die deutsche Literatur einverschrieben, auch wenn wir sie suchen müssen. Wer sie einmal findet, der trägt immer das Zirkusmädchen aus der Polenta mit sich. Und vielleicht ist das wie mit ihren Texten: Viel weiße Fläche und dann stößt man auf Worte, die alles ändern. Aglaja Veteranyi hatte damit genau die richtige Form gewählt für eine Literatur derer, die sich in die Welt verstreut haben.
Warum ich kein Engel bin
Ein Engel verkleidete sich als Engel und blieb unerkannt.
Ein anderer fiel vom Himmel und zerschellte.
Ein ausländischer Engel wurde gläubig und ertränkte sich in der Badewanne.
Im Himmel werden tote Engel ausgestopft und an die Wand gehängt.
Ich bleibe lieber unsterblich.
Aus: Aglaja Veteranyi: Vom geräumten Meer, den gemieteten Socken und Frau Butter