Eröffnungsrede zu »Frankfurt liest ein Buch« 2023
2011 stand Wilhelm Genazinos Abschaffel-Trilogie im Mittelpunkt von Frankfurt liest ein Buch. Es war das Jahr, in dem ich Frankfurt verlassen habe; ich war gerade im Begriff »auszuziehen, um Schriftstellerin zu werden«. Mit jedem Gang durch die Stadt nahm bereits alles eine nostalgische Färbung an, ich wusste nicht, was auf mich zukommen würde und wie es zu bewerkstelligen ist, dieses Schriftsteller-Werden, dessen Weg schon jetzt ein paar unvorhergesehene Abzweigungen genommen hatte. (Zu diesem Zeitpunkt wusste ich bereits, dass sie mir am Ende nur dienen würden.) Auf einem dieser letzten Gänge durch Frankfurt stand ich vor dem Schaufenster einer Buchhandlung, in dem Abschaffel und das Festival beworben wurden. Ich weiß noch genau, wie ich mich in dieser Glasscheibe spiegelte und dachte: »Vielleicht eines Tages.« Es war ein weit entfernter Tag, der mir da vorschwebte, und obwohl ich große Ziele hatte, habe ich mir nicht vorstellen können, dass es gleich mein erster Roman sein würde, der für Frankfurt liest ausgewählt werden würde.
Am 22. August 2012 notierte Genazino in sein Werktagebuch:
Wer Frankfurter Vororte beschreiben will (Hoechst, Griesheim, etc.), kommt um Beleidigungen nicht herum.
Ich weiß genau, was Wilhelm Genazino hier meint und unter welchem Eindruck er wahrscheinlich nach einem Spaziergang durch den Frankfurter Westen stand. Und doch habe ich mit Streulicht ja versucht, zumindest an manchen Stellen das Gegenteil zu tun. Ich habe versucht, die eigentümliche Schönheit, die diesen Stadtteilen eingeschrieben ist, einzufangen. Eine Ableitung der westlichen Vororte zu erfinden, die Abgase und Schornsteinrauch, seltsam klebrigen Industrieschnee und die provinzielle Enge der Vorstadt in eine Fiktion übersetzt, in der das Märchenhafte zur Geltung kommt, das mich an vielen frühen Morgen in der S-Bahn-Linie 1 beim halbschlafenen Blick aus dem Fenster gepackt hat.
Der Ort, wie er in meinem Text schlicht heißt, ist ein literarischer, kein realer. Er ist eine Collage aus verfremdeten Erinnerungen mehrerer Jahrzehnte, Erfindungen und miteinander verschmolzenen Straßenecken, eine mythologische Landschaft, die eines Nachmittags vor meinem inneren Auge auftauchte und aus deren düsteren Stimmung mir meine Erzählerin entgegenkam. Sicher finden sich ähnliche Landstriche in ganz Deutschland, deshalb habe ich den Ort namenlos gelassen, genau wie meine Erzählerin. Beide sind ein Denkmal geworden für die Wehmut, die jeden packt, der einen solchen Ort einmal verlassen hat. Der sich wundert, wieso er berührt wird vom Anblick einer Trinkhalle, deren Rollladen schief in den Scharnieren hängt, oder eines Strommasts im brachen Maisfeld; für den das Brummen einer Kläranlage nicht klingt wie ein Störgeräusch. Für jede und jeden, dessen Biographie ein paar Brüche und Stolpersteine aufweist und der dadurch eine stille Stärke hat, die von manchen als Makel abgetan wird.
Ohne Frankfurt und seine westlichsten Stadtteile, ohne diese Ästhetik eines Industrieparks, mit der ich aufgewachsen bin, hätte dieser Ort dennoch nicht entstehen können.
Dass mein Text drei Jahre nach seinem Erscheinen diesen Stadtteilen zu einem kleinen Ruhm verhilft – dass sie jetzt im Rahmen dieser vielen Veranstaltungen und sogar Rundgänge ein Publikum bekommen, wo mich früher nie einer dort besuchen wollte, weil es »zu weit weg« ist – übersteigt meine wildesten Träume aus dem Jahr 2011. Auf diese Art von meiner Heimatstadt ausgezeichnet zu werden, ist mir eine große Ehre. Ich danke dem Team von Frankfurt liest ein Buch und der Stadt Frankfurt für ihr Vertrauen in mich.
Ebenso gilt mein Dank meiner Lektorin Martina Wunderer, allen, die heute Abend Auszüge aus Streulicht gelesen haben, meiner Familie und allen LeserInnen. Ich freue mich auf diese kommenden zwei Wochen mit Ihnen.
Diese Rede wurde am 24. April 2023 anlässlich der Eröffnungsveranstaltung von Frankfurt liest ein Buch 2023 in der Deutschen Nationalbibliothek Frankfurt gehalten. Das Festival dauert noch bis zum 7. Mai 2023. Informationen zum Programm gibt es »hier.
Seit Ende April wird der Roman von Deniz Ohde am Kleinen Theater in Salzburg in der Bühnenfassung von Caroline Richards und Emily Richards inszeniert. Informationen zur Inszenierung gibt es »hier.