Jede Kritik ist – im guten wie im schlechten Sinne – parasitär. Sie ist abhängig und nachgeordnet, ein Schalk, der sich im Nacken des Ereignisses1 festsetzt, sich dort entfaltet und immer häufiger bemängelt, dass das kostenfreie Essen früher ganz eindeutig besser, anspruchsvoller und vor allen Dingen: erfahrungsreicher war. Gleichzeitig ist die Kritik als Parasit die Störung2, die das Schweigen der Organe bricht, sich einmischt, Rauschen fabriziert3 und so das Gespräch eröffnet oder übertönt, Verbindungslinien zieht und in vielen Fällen überhaupt erst ein Bewusstsein schafft für das Ereignis selbst, an dessen Fleisch der Parasit sich ohne eigene Leistung4 labt. In gewisser Weise also eine doppelte performative Symbiose: denn erstens wird, indem er sich seinem Namen entsprechend verhält, der Parasit zu dem, was sein Name doch von Anfang an besagt (oder war der Parasit schon Parasit, als er noch nicht auf Kosten anderer lebte – die alte Frage wieder: Henne oder Ei, Täter oder Tat?), und zweitens – um im Bild zu bleiben –: Wirt wird der befallene Körper, wenn andere Wesen Nutzen aus ihm ziehen. So konstituieren sich folglich beide Seiten, bezeichnen sich, ja sichern sich jeweils die Identität, den Körper und den Namen zu, doch – wie wohl hinlänglich bekannt sein dürfte – beschränkt sich immer, was sich Namen gibt5; das Frischgeborene wird geschlechtlich markiert, das Buch zum besten des Jahres gekürt, der Literaturwettbewerb Open Mike zum »wichtigste[n] Talentschuppen der jungen Literatur«6. Am Namen lässt sich insofern erfahren, was ist bzw. sein soll, die Differenz zu etwas anderem und zugleich auch das, woran es mangelt. Wirksam aber werden Zuweisungen erst durch praktizierte Wiederholung, denn durch sie stellt sich Gewohnheit ein. Das heißt, ein einzelner Parasit begründet zwar bereits den Wirten, aber je zahlreicher die ungeladenen Tischgesellen, desto gefestigter die Existenz des Wirts als Wirt und vice versa (denn schließlich sichert auch der Gegenstand des Parasitismus seinen Parasiten). Was anfangs also nur Behauptung war, kommt allmählich in Gebrauch, wird gebräuchlicher, weniger willkürlich, und so kann weiter heiter multiparasitisch für den Konsens einer Wirklichkeit gekaut werden, weil es viel leichter (d.h. effizienter7) ist, sich einen Wirt zu suchen, der schon Bissspuren vorzuweisen hat. Die Assertion Wirt wird demnach Konvention, die dem Körper zuteilgewordene Eigenschaft zur öffentlichen Wahrnehmung8, weshalb der Wirt nicht mehr Gefahr läuft, sich in der Gegenwärtigkeit des Parasitenbisses zu erschöpfen. Stattdessen bleibt ihm nun alle Zeit der Welt, dem zu entsprechen, was alle in ihm sehen. Jedoch: Ein Problem bringt solch ein vollständiges Wirt-Sein dennoch mit sich (kein ganz reales, selbstverständlich, wohl eher metaphorisch-zugespitzt, denn zugegebenermaßen züchte ich mir Parasit und Wirt in diesem Text hier widewide wie es mir gefällt, Entschuldigung, ich meine unter einer Glasglocke heran9): Ist der Wirt erst mal auf dieses Sein beschränkt, d.h. als Wirt fixiert, tradiert und dieses Bild von ihm reproduzierbar, beginnen die Parasiten nach und nach, von dem zu zehren, was ihre Vorgänger konstituiert haben. Nichts Neues zirkuliert mehr zwischen ihnen oder um ein anderes Bild zu malen: Wie bei der Atmung unter einer Plastiktüte, wo sich der Sauerstoffanteil der Luft verringert, verdrängt vom Atmungsabfall Stickstoff, wird langsam aber stetig nur mehr Verbrauchtes, Abgestandenes inhaliert und eingenommen. Es entsteht gewissermaßen eine kreisläufige Form10 von Hyperparasitismus – der Parasit parasitiert nun seine Tischgesellen, wird danach selbst zum Opfer eines solchen und so weiter und so weiter, und so wandert die Nahrung ganz beständig von einem Magen in den nächsten. Während sich die Parasiten dadurch auf ewig ihren Status sichern, verkommt der Wirt endgültig zum Standbild seiner selbst, stagniert, erstarrt er, und man könnte sagen: stirbt er ab unter den Augen aller seiner Mitesser. Die hingegen sitzen nach wie vor mit vollem Mund am wirtlich gut gedeckten Tisch und denken sich: Wirt ist Wirt und bleibt es auch, egal, ob tot oder lebendig.
Und nun? Und ich? Ich sitze – ihnen nicht ganz unähnlich, bequem und etwas träge – immer noch am Tisch, dem Kritik-Begriff die Metaphernmaske malend, obwohl ich längst halbwegs konkret zur Anwendung gelangt sein, meint: am Paradebeispiel eines Parasiten selbst zum Parasiten werden wollte. Deshalb also kurzerhand das alles umgelegt auf die alljährlich wiederkehrende Kritik des »Schaulaufen[s] für erschreckend professionelle Jungautoren«11, auch bekannt als Open Mike12, respektive ihres ritualisierten Sprechens13 über einen Gegenstand, den es in dieser Form gar nicht mehr zwangsläufig so geben muss (falls es ihn tatsächlich derart je gegeben haben sollte): Was 1993 noch im kleinen Kreis und nicht sonderlich beachtet mit Schlenker, Krohn und Röggla seinen Ausgang nahm, wird seit 1997 konstant von »allen großen deutschen Tageszeitungen«14 als Tischpatron mit den dafür erforderlichen Eigenschaften empfunden und genützt, denn 1.) hatte sich der Open Mike da turnusmäßig schon bewiesen, und 2.) ist es immer gut, wenn sich an einem Punkt zusammenballt, was wenigstens vermeintlich Allgemeinheit widerspiegelt15. In diesem unserem Fall setzte die Open Mike-Kritik somit genau dort ein, wo ein Interesse für den Gegenstand bereits bekundet worden war und steigerte dieses zusätzlich mithilfe der von ihr besetzten Position16. Daraus lässt sich gleich die erste Interdependenz ableiten: Indem der Open Mike von jemandem besprochen wurde, der Öffentlichkeit generiert, bekräftigte sich die Relevanz des Wettbewerbs durch eben diese Öffentlichkeit und demnach auch die Relevanz, darüber zu berichten (stabilisiert werden Wirt wie Parasit durch Wahrnehmung von außen). Und Knall auf Fall folgt daraufhin die nächste wechselseitige Beziehung: Das so gesteigerte Interesse verhalf zu weiteren Kritiken, und da nun alle ganz gebannt den Open Mike im Blickfeld hatten, war es ein Leichtes, ihm den Titel »wichtigste[r] deutschsprachige[r] Literatur-Nachwuchswettbewerb« ans Revers zu heften. Einher ging damit implizit, dass nicht mehr einfach ausgewählten Texten Raum und Rampenlicht geboten wurde (und bis heute wird), sondern dass das, was sich dort präsentieren durfte, zuvorderst Repräsentant der deutschsprachigen Nachwuchsliteratur im Allgemeinen war (und ist). Kurzschluss also. Daher eine Zwischenfrage: Kann es im LiteraturkritikerInnen-Leben Schöneres geben als so ein pars-pro-toto-Exemplar von einem Wirt, der zuverlässig jedes Jahr aufs Neue sich zum Fraß vorwirft? Ja? Nein? Vielleicht? Zumindest lässt sich mit Bestimmtheit sagen, welche Möglichkeiten sich für die Kritik daraus ergeben haben und zwar nämlich maßgebliche Bildgestaltung dessen, was landläufig für junge deutschsprachige Literatur gehalten wird.17 Wirksam aber wurden, wie gesagt, die Zuweisungen erst in der Wiederholung, was nichts anderes heißen mag als stetige Entwicklung eines Konsens, der sich den LeserInnen des Feuilletons als allgemeine Wirklichkeit erschließt. Wenn nun also Jahr für Jahr zu lesen ist, die Texte seien »ordentlich gemacht zumindest«, jedoch herrsche eine »Armut der Themenwahl, der Sujets, der Erzählungskunst, der Originalität«, »viel Mittelmaß, viel Konformität«, handle es sich um »trendige Belanglosigkeiten«, »in denen junge Protagonisten durch Studentenstädte oder am Strand entlang stolper[ten] und irgendwie desillusioniert« seien, weil »all die schreibenden Installateure, Hebammen, Mathematiker, Fernfahrer, Kieferorthopäden, Bäcker und Bestatter« aufgrund ihrer Selbstinszenierungsscheu ferngeblieben seien, wird sozusagen nicht am eigentlichen Gegenstand Kritik genommen, sondern finden einzig Zeichen der Gemeinschaft ihre Bestätigung. Erwartungshaltung wird befriedigt, indem der Parasit gewissermaßen seinen Wirt verdeckt und überwindet, woraus sich nun ergibt: es braucht den Open Mike nicht länger, es genügt die Behauptung seines Stattfindens, da die Kritik sich ohnehin nicht notwendigerweise mehr an dem, was vorfällt, speisen muss. Der Wirt kann ebenso gut tot sein, die Punkte der Kritik sind längst im Umlauf, ja sie wandern hin und wandern her – das selbsterhaltende Prinzip des Hyperwirts, es lebe hoch, es lebe hoch und immer, immer weiter.