Vor Kurzem entdeckte Sarah Wipauer (@standseilbahn auf Twitter), die einen gewissen Wünschelrutensinn für derlei Dinge hat, beim Blättern in Otto F. Bests Handbuch für literarische Fachbegriffe, einem Standardnachschlagewerk für Germanisten, einen merkwürdigen Begriff. Sie zeigte mir den Eintrag:
Pansilenz, die: (gr. all + lat. Schweigen) Allschweigen, von Iser Carbonus geprägter Begriff für Vorstellung, daß der Himmel leer u. der Mensch in Einsamkeit auf einer von Schweigen umschlossenen Erdkugel lebt; darauf beruhendes Angstgefühl kann durch den ›Schrei‹ als ›existenzstiftendes u. -steigerndes Movens‹ überwunden werden; Vorstellung möglicherweise von Einfluß auf → Sturm und Drang sowie → Expressionismus. (→ Pantragismus).
Eine Internetsuche nach dem Begriff ›Pansilenz‹ ergab allerdings exakt 0 Treffer. Ebenso eine Suche nach ›Iser Carbonus‹. Verschiedene alternative Schreibweisen wurden ausprobiert, aber nichts, kein einziger Hinweis. Auf Google Books ist Bests Handbuch nicht digitalisiert, daher findet man auch dort keine Spur. Es gibt überhaupt nichts. Das Wort ›carbonus‹ bringt natürlich einige Treffer, aber zum Thema Autoprämien, car bonus. Ich versuchte das wörtliche Zitat vom Schrei als »existenzstiftendes u. -steigerndes Movens«, ebenfalls kein Treffer. Nun deckt, zugegeben, Google bzw. Google Books noch nicht das ganze Universum ab. Viele deutschsprachige Publikationen sind noch nicht digitalisiert, also unsichtbar. Aber dass es den Autor Iser Carbonus nirgendwo gibt, ist in der Tat verdächtig. Was ist das überhaupt für ein Name? Ich versuchte einige Anagramme, kam aber auf nichts Erhellendes. Cobra Sunrise, Brain Sources, crabs use iron.
Das Wort ›Pansilenz‹ scheint zudem falsch gebildet. Sollte es nicht Omnisilenz heißen? Oder Pansigie. Aber gut, das ist Klugscheißerei. Ich weiß bloß nicht weiter.
Wikipedia sagt:
Ein fingierter Lexikonartikel, auch Nihilartikel (von lat. nihil ›nichts‹) oder U-Boot genannt, ist ein frei erfundener Eintrag in einem Lexikon zu Personen oder Dingen, die außerhalb des Lexikons nicht bzw. nur als Fiktion existieren. Er soll als solcher vom Leser möglichst nicht erkannt werden. Auch frei erfundene Details in ansonsten zutreffenden Artikeln können in diesem Sinne als U-Boote bezeichnet werden.
Dabei entsteht eine paradoxe Kommunikationssituation: Um etwas im Lexikon nachzuschlagen, benötigt man normalerweise eine Referenz aus anderen Kontexten, die ihren Ursprung außerhalb des Lexikons haben. Bei einem erfundenen Lemma können derartige Referenzen nicht existieren. Der Artikel wird also im Idealfall nur nach dem Zufallsprinzip (Serendipity) gefunden.
Berühmte U-Boote in Nachschlagewerken sind etwa die Loriot’sche ›Steinlaus‹ im Pschyrembel oder das Morgenstern’sche ›Nasobēm‹ im Brockhaus und in Meyers Konversations-Lexikon.
Die Pansilenz fällt vielleicht in diese Kategorie. Und das, was der Begriff beschreibt, gilt ja offensichtlich für die eben umrissene »paradoxe Kommunikationssituation«: Ein fingierter Lexikonartikel lebt, zumindest im Idealfall, umgeben von vollkommener Stille. Niemand sucht nach ihm, niemand ›hört‹ seinen Ruf, seine Aussage. So wie der Kosmos, der uns umgibt, nichts von unseren egal wie lauten Schreien vernimmt: Das Weltall ist immun gegen jeden auf der Erde produzierten Schall. Albert Camus beschrieb das Prinzip des Absurden mit dem Bild der »Gegenüberstellung des Menschen, der fragt, und der Welt, die vernunftwidrig schweigt«. Auch Georg Büchners Lenz kommt einem in den Sinn: »Er schien ganz vernünftig und sprach ruhig und freundlich mit Oberlin. Der bat ihn, nicht zu weit zu gehen, er versprachs; im Weggehen wandte er sich plötzlich um und trat wieder ganz nah zu Oberlin und sagte rasch: sehn Sie, Herr Pfarrer, wenn ich das nur nicht mehr hören müßte mir wäre geholfen. ›Was denn, mein Lieber?‹ Hören Sie denn nichts, hören Sie denn nicht die entsetzliche Stimme, die um den ganzen Horizont schreit, und die man gewöhnlich die Stille heißt, seit ich in dem stillen Thal bin, hör’ ich’s immer, es läßt mich nicht schlafen, ja Herr Pfarrer, wenn ich wieder einmal schlafen könnte. Er ging dann kopfschüttelnd weiter.« Niemandem wird die Empfindung fremd sein. So fühlt man sich manchmal auf der Erde. Und so fühlt sich auch ein anschluss- und referenzlos in ein Nachschlagewerk eingeschmuggeltes Wort.
Otto F. Best starb 2008, wir können ihn nicht mehr fragen.
Eine Möglichkeit fällt mir ein. Es gibt doch den deutschen Literaturwissenschaftler Wolfgang Iser. Dieser starb leider 2007, also kann man auch ihn nicht fragen. Aber könnte Iser Carbonus eine Art von akademischer Insiderwitz-Kosename gewesen sein? Was bedeutet Carbonus eigentlich? In Lateinwörterbüchern finde ich den Begriff nicht. Mir scheint, dass durch den Tod von Best, und vielleicht auch von Iser, die Stille um den Begriff ›Pansilenz‹ vollkommen geworden ist. Beim Wiederlesen des Eintrags kommen mir nun ähnlich mitleidsvolle Empfindungen wie damals, als ich zum ersten Mal den Begriff ›Hapax Legomenon‹ nachschlug und die Beispiele las. Das sind Wörter, die nur an einer einzigen antiken Belegstelle genannt werden und deren Bedeutung niemand mehr kennt, vollkommene Fremdlinge, tragisch umgeben von einer Textur aus Bekanntem. Im Duden findet sich zudem ›sitt‹, das einsamste deutsche Wort. Es war niemals lebendig. Es wurde 1999 künstlich geschaffen und offiziell in den Duden aufgenommen, um ein Loch in der Sprache zu stopfen, das in fast allen Sprachen existiert: ein eigenes Wort für »nicht mehr durstig«. Gedurstgelöscht. In der Tat ist es merkwürdig, dass das Stillen von Durst keine eigene Empfindung hervorruft. Würde es das, hätten wir sicher ein Wort dafür. Nein, dieser Schluss ist unzulässig. Es gibt Millionen von Empfindungen, die kein eigenes Wort haben. Jedenfalls wurde damals ein Wettbewerb veranstaltet, von der Eisteefirma Lipton in Zusammenarbeit mit der Duden-Redaktion, und nach einer entsprechenden Wortkreation gesucht. Am häufigsten (angeblich ungefähr vierzigmal) wurde ›sitt‹ eingesandt. Das slowenische Wort für ›satt‹ lautet ›sit‹, was eine mögliche Erklärung dieser Häufung sein könnte. Und nun sitzt das Wort im Duden, aber kein Mensch verwendet es.
Vielleicht ist der ›Pansilenz‹-Eintrag in Bests Handbuch ein Spielangebot, und man muss nur den weiterführenden Stichwörtern folgen, um an einen interessanten Ort zu gelangen. Also: Schlagen wir ›Pantragismus‹ nach. Aber hier ist alles normal. Die Erklärung ist konventionell, und auch das Beispielzitat (aus einer Bemerkung Hebbels über das Drama) ist authentisch. Ebenso die Einträge über ›Sturm und Drang‹ und ›Expressionismus‹, was wenig überrascht, denn diese Begriffe werden gewiss häufig nachgeschlagen. Dass Otto F. Best allerdings ein keckes, spielfreudiges, schelmisches Wesen besaß, kann man an seinem Handbuch an mehreren Stellen ablesen. So stößt man beispielsweise unter dem Lemma ›Kasperltheater‹ auf einen zweiseitigen Ausschnitt aus Kasperl in der Türkei von Franz von Pozzi, ein überraschend langes Belegzitat, in dem Kasperl und Prof. Schurimuri ins Philosophieren geraten. Als Erklärung für den Begriff ›Fachprosa‹ wird ein wunderliches Zitat über den Knoblauch aus der Groß-Schützener Gesundheitslehre angeführt:
Vnd des ersten von dem knoblach, der da ist, als Auicenna schreibt, warm vnd drucken ym dritten grad biß an den vierden. Von dem wilden schreiben die mayster, das er warm vnd drucken sey ym vierden grad, aber man nüczet seyn nit ym wege der speiyse.
Zugegeben, das ist Fachprosa, in Abgrenzung zur Kunstprosa (für die Best einen Ausschnitt aus dem Ackermann aus Böhmen zitiert), aber gab es tatsächlich kein besseres, anschaulicheres Beispiel dafür? Unweigerlich hört man an dieser Stelle beim Lesen das leise Kichern des Kompilators.
Wolfgang Iser wurde übrigens bekannt mit seinem Begriff der ›Leerstelle‹, im Germanistikstudium damals habe ich das gelernt. Rezeptionsästhetik, genau, so nennt sich die dazugehörende Theorie. Fiktion besitzt demnach immer Leerstellen, die der Rezipient selbst im Kopf ausmalen oder ergänzen muss. Erzählen ist keine Übermittlung von Informationen, sondern es imitiert nur den Gestus von Unterricht oder Belehrung: dort wohnt dieser Mensch, und da geschah das, was zur Folge hatte, dass usw. ›Iser Carbonus‹ – ist das auch eine Leerstelle? Ich weiß es nicht.
Ich vermute, die meisten Germanisten besitzen Otto F. Bests Handbuch. Vollständig durchlesen wird es allerdings kaum einer, dafür ist ein Nachschlagewerk auch nicht gemacht. Ich lese seit Jahren im Grimm-Wörterbuch, als wäre es eine lineare Erzählung; auch das keine ›beabsichtigte‹ oder ›korrekte‹ Handhabung dieses Werks. Normalerweise sind Lexika und Wörterbücher eher unsichtbare Texte, die nur zur Sicherheit vorhanden sind, sozusagen für den Ernstfall, so wie in gewissen Haushalten die Bibel.
Bei Best findet sich auch folgender Eintrag:
Ghostword, das: (engl. Gespensterwort) a) aus Schreib-, Druck-, oder Aussprachefehler entstandenes neues Wort; b) Wort, das nur in Wörterbüchern existiert. (→ Mot rare, → preziöse Literatur)
= a) Hamsun aus Hamsund
Ich habe dann noch ›Mot rare‹ nachgeschlagen, und die Belegstelle darf diesmal der Dichter Stefan George liefern, der in seiner Poesie offenbar folgende seltene Wörter gebrauchte:
Flor, laben, Kürbisnapf, Stapfe, Gemarke, Gestade.