Diese wunderbare Entdeckung habe ich Guido Graf zu verdanken. Er verlinkte auf Facebook einen Artikel, in dem eine ungewöhnliche Technik beschrieben wird, Poesie aus dem Nichts zu zaubern. Nach dem neuesten Update auf iOS 8.0 verfügt das Keyboard des iPads oder iPhones über eine auf den ersten Blick unangenehm besserwisserische automatische Vervollständigungsfunktion. Sobald man ein Wort eingegeben hat, erscheinen am oberen Rand der virtuellen Tastatur drei Vorschläge. Woher nimmt das Programm diese Wörter? Ich nehme an, aus allen verfügbaren Quellen: beispielhafte Textbestände im Internet, Texte von mir, in der Vergangenheit oft getippte Phrasen etc. Wie ein Hund studiert mich das iPad schon seit Jahren und machte sich, ohne dass mir das bewusst war, die ganze Zeit Notizen über mich. Und bestimmt kombiniert es, hinter meinem Rücken, meine Tipp- und Formuliergewohnheiten mit denen anderer Benutzer. Und so ergibt sich ein Bewusstseinsstrom von »nächsten Wörtern«, den man direkt anzapfen und in strahlende Poesie umwandeln kann.
Hier ein Video, bei dem man das Prinzip in Aktion sieht:
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Das Wort »Argentinien« kam mir einfach so in den Sinn. Der Rest wurde von QuickType geschrieben – oder sagen wir lieber: suggeriert. Ein Rest von menschlicher Kreativität bleibt ja doch (obwohl diese Schreibtechnik eindeutig in das reiche und noch weitgehend unabgegraste Gebiet des »uncreative writing« fällt, ein Begriff, der von dem Dichter Kenneth Goldsmith in seinem grundlegenden Werk gleichen Namens geprägt und in seinen vielfältigen Möglichkeiten analysiert wurde): Es bedarf weiterhin eines Menschen, er muss auswählen, welches von den drei Wörtern ihm am besten gefällt. Man kann sich natürlich im Vorhinein noch engere Schranken auferlegen und zum Beispiel immer nur das linke Wort anklicken.
Hier mein erstes Gedicht, das durch QuickType entstand:
Hunde
Hunde sind in diesem Zusammenhang von der Schule zu kommen.
Hunde in der Nacht von Samstag bis Montag.
Hunde in den vergangenen Tagen in der Stadt und der Rest des Jahres ist ein Test.
Hunde sind die besten Wünsche zum Geburtstag.
Hunde sind die meisten Menschen.
Und noch eines:
Gedichte
Gedichte von mir und meinem iPhone.
Gedichte und Geschichten aus der Hand in der Nacht.
Gedichte von mir und meiner Meinung.
Gedichte in der Schule zu Hause und ich bin jetzt schon wieder eine gute Idee.
Gedichte von der Firma mit Sitz im Sicherheitsrat der Nacht.
Wer hätte das gedacht, dass es tatsächlich einen literarischen Grund gibt, das lästige iOS-Update durchzuführen. Wie jedes Mal, wenn man Zugang zu einem fremden Bewusstsein erhält, wie durchtränkt und abgeleitet es vom eigenen (oder vom Durchschnitt vieler fremder) auch sein mag, stellt sich ein belebendes, ja momentweise sogar bewegendes Pioniergefühl ein. Ich musste an den großen österreichischen Dichter Ernst Herbeck denken, dessen Gedichte auf eine ganz ähnliche Weise entstanden sind. Herbeck, 1920 geboren, war fünfundvierzig Jahre lang Patient in der niederösterreichischen Landesnervenklinik Gugging. Sein behandelnder Arzt Leo Navratil begann in den sechziger Jahren damit, dem scheuen, unter einer Sprechbehinderung leidenden Patienten Gedichttitel vorzuschlagen. Herbeck ging auf die Vorschläge ein und schrieb in Gegenwart Navratils kurze Texte, meist in einem Zug. Eine solche Sitzung wurde in der großartigen Dokumentation Zur Besserung der Person von Heinz Bütler festgehalten. Herbecks Texte gehören zum Schönsten, was man an lyrischen Gebilden in deutscher Sprache im 20. Jahrhundert finden kann.
Hier eines seiner Gedichte. Er verwendet darin eine Technik der Aufzählung, vielleicht ähnlich der in meinen QuickType-Versuchen. Der von Leo Navratil vorgeschlagene Begriff wird mit fast jeder begonnenen Zeile neu entdeckt und durchleuchtet:
Rot
Rot ist der Wein, rot sind die Nelken.
Rot ist schön. Rote Blumen und rote.
Farbe dazu ist schön.
Die rote Farbe ist rot.
Rot ist die Fahne, rot der Mohn.
Rot sind die Lippen und der Mund.
Rot ist die Wirklichkeit und der
Herbst. Rot sind manche Blaue Blätter.
Es gibt auch andere, freier assoziierende Gedichte, wie etwa dieses:
Der Patient
die Katze ist ein Lamm des Friedens.
so denkt ein Dichter seiner Zeit.
die im inneren Zeichen eines Psychiaters
einer eigenen Welt gehorcht, – dem Patienten.
der Arzt zieht die Nummer dann
dem Patienten eine neue Seele an.
der im neuen Geiste einer Krankheit,
immer weiterziehen soll.
Oder solche, deren letzte Zeile einem die Wirbelsäule mit einem Ruck geraderichtet:
DIE KÄLTE –
Die Kälte geht in die Finger
und Zehen, wenn es kalt ist.
Es gibt Kälte- und Wärmegrade.
An und für sich ist es immer
kalt.
Mein Herz.
Mein Herz schlug bis auf den heutigen
Tag wirklich normal. Die Schrift war
kurrent. Der Zaun war hoch die Tigerin war rot.
vor Wut. Die Kaserne lag in meiner Nähe.
Das Herz schlug warm. Das Blut lag
in den Adern.
Oder dieses, mit der Magie der wiederholten letzten Zeile:
Die Wintertage
Hell lesen wir am Nebelhimmel
wie dick die Wintertage. Sind.
Offenkunde Volk und Mädel
d’sich kundig selbst hier tummeln.
der Schnee und das Eis am Bache war.
rundig und das Wasser rauscht.
und das Wasser rauscht.
Man möchte am liebsten tagelang Herbeck zitieren. Wer keinen Zugang zu seiner Poesie findet, auch nicht nach einer gewissen Zeit, wird mir vermutlich ewig fremd oder bestenfalls ein Rätsel bleiben.
Hier ein QuickType-Gedicht, bei dem ich, wenn sich eine Sackgasse ergab, einfach weiterklickte und dem Bewusstseinsstrom des Programms weniger Schranken auferlegte. Auch Herbeck ließ sich von den strengen Regeln der deutschen Grammatik keine Angst einjagen.
Der Herbst
Der Herbst hat sich die Frage nach der Arbeit mit dem Thema zu sprechen.
Der Herbst ist da und die Sonne auf der Welt ist ein Test.
Der Herbst ist das nicht.
Der Herbst ist ein schöner Abend mit dem Auto unterwegs und ich hab dich.
Der Herbst kommt die Meldung von mir auch nicht so.
Der Herbst kommt derzeit nicht mehr so viel zu wenig schlafen
und dann auch mal wieder ein bisschen.
Einen wirklichen, tiefgehenden Vergleich zwischen der QuickType-Poesie und den Gedichten von Ernst Herbeck möchte ich nicht anzetteln. Das eine ließ mich nur an das andere denken. Beiden wohnt eine verwandte Technik der Poesiegewinnung inne. Doch bei Herbeck ist es immer dieser einzigartige, auf so gestrüpphaft luzide Weise Sätze erzeugende Mensch mit dem ungewöhnlichen Kopf, und bei QuickType ist es – ja, wer oder was ist es? Das Programm, die Standard-Ergänzungen aus einer Bibliothek und ich selbst und vielleicht noch mehr Leute. Man blickt am Ende möglicherweise in einen stark verzerrenden Spiegel, wenn man QuickType die Schreibzügel in die Hand gibt und Gedichte machen lässt.
Aber trotzdem möchte ich am Ende dieser Betrachtung einen kleinen Test wagen. Von wem ist folgendes Gedicht (mit angepasster Orthographie), von Herbeck oder QuickType?
Der Albtraum
Ein Albtraum für den Rest von heute.
Ein Albtraum und die anderen beiden Betten
Die meisten Menschen haben die anderen
nicht nur in der Hand
Alle Gedichte von Ernst Herbeck werden mit freundlicher Genehmigung des Verlags zitiert nach folgender Ausgabe: Ernst Herbeck, Der Hase!!!! Ausgewählte Gedichte. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Gisela Steinlechner, Salzburg und Wien, Jung und Jung 2013.
Das Foto von Ernst Herbeck stammt aus dem Buch Ernst Herbeck: die Vergangenheit ist klar vorbei.